Kædmon

[466] Kædmon wird von Beda in der Historia ecclesiastica gentis Anglorum lib. IV cap. 24 ein Mann genannt, der in der zweiten Hälfte des siebenten Jahrhunderts in der Nähe des Klosters Streomeshalh oder, mit dänischem Namen Whitby in Northumbrien lebte und als der erste angelsächsische Dichter, dessen Namen wir kennen, betrachtet werden kann. Beda erzählt von ihm, dass, als er im Viehstall, den er bewachen musste, übernachtete, im Traume eine himmlische Stimme ihn aufgefordert habe die Schöpfung der Welt zu besingen. Durch dieses Gesicht wurde der einfache Mann, dem früher die Gabe des Gesanges vollständig versagt war, so begeistert, dass er in die Worte ausbrach:


»Nun sollen wir preisen des Himmels Wächter,

Des Schöpfers Macht und seine Herzensgedanken,

Die Herrlichkeit Gottes, wie zu jedem der Wunder

Der ewige Herr den Anfang legte.

Er schuf zuerst den Kindern der Erde

Den Himmel zum Dache, der heilige Schöpfer,

Dann den Mittelkreis des Menschengeschlechtes Hüter.

Der ewige Herr schuf nachher

Für die Menschen, die Erde, der allmächtige Gebieter.«


So war Kædmon über Nacht ein Dichter geworden und die Äbtissin Hilda des Klosters Streomeshalh nahm ihn in das Kloster auf und liess ihn unterrichten in der biblischen Geschichte. Alles, was er da hörte und lernte, verarbeitete er nun im Gedichte. »So dass er sang,« wie Beda sagt, »von der Schöpfung der Welt und dem Ursprung des Menschengeschlechtes und die ganze Geschichte der Genesis; von dem Auszuge Israels aus Ägypten und dem Einzuge in das gelobte Land; von vielen anderen Geschichten der heiligen Schrift; von der Fleischwerdung des Herrn, dem Leiden, der Auferstehung und der Himmelfahrt; von der Ankunft des heiligen Geistes und der Predigt der Apostel: auch von dem Schrecken des künftigen Gerichtes, von dem Graus der Höllenstrafe und der Süssigkeit des himmlischen Reichs machte er viele Lieder, aber auch gar manche über die Gnade und Gerichte Gottes; in[466] allen aber trachtete er die Menschen von der Liebe zur Sünde abzuziehen und für die Tugend zu entflammen.«

Obwohl dieser Darstellung nach Kædmon ein ausserordentlich fruchtbarer Dichter hätte sein müssen, so können wir doch ausser dem kurzen mitgeteilten Hymnus (welcher sich in lateinischer Übersetzung an der oben angeführten Stelle von Bedas Kirchengeschichte, dann im Original in northumbrischer Sprache am Ende einer alten Handschrift der Historia ecclesiastica und endlich in den westsächsischen Dialekt übertragen in Ælfreds Übersetzung der Kirchengeschichte sich findet) aus der ziemlich reichhaltigen geistlichen Litteratur der Angelsachsen kein Werk mit Sicherheit unserem Dichter zuweisen. Ein einziges will ten Brink in seiner englischen Literaturgeschichte Bd. I pag. 51 mit dem Namen Kædmon in Verbindung gebracht wissen und zwar die angelsächsische Genesis, von welcher ten Brink es durchaus denkbar hält, dass uns in ihr ein fragmentarisch und lückenhaft überliefertes, im einzelnen vielfach verderbtes, sprachlich erneuertes und modifiziertes Werk Kædmons vorliege. Das in Sprache und Darstellung uns entgegentretende hohe Alter der Dichtung, welche eine poetische Paraphrase der Genesis bis zum Opfer Abrahams ist, ebenso entsprechende Ausdrucksweisen und Wendungen wie im Hymnus lassen sich als Beweise für ten Brinks Annahme aufstellen.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 466-467.
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