5.

[109] Wo ist mein Vetter? rief Benno von Asselyn, eilends die Stiege hinunterspringend, und vergegenwärtigte sich den Schmerz, den Bonaventura über ein solches Ereigniß auf dem Friedhofe seiner Kirche empfinden mußte.

Er erfuhr sogleich, daß Bonaventura auf dem Friedhofe die Ordnung schon wieder äußerlich hergestellt hatte und mit dem Schulzen des Ortes eine genaue Darstellung der Vorgänge, wie sie auf dem Friedhofe gefunden worden waren, eben schriftlich aufsetzte.

Gern hätte ihm Benno beigestanden, aber Hedemann, ein alter Soldat, erinnerte ihn, daß er heute Nachmittag Schlag fünf Uhr in Kocher am Fall zum Appell auf dem Marktplatze stehen müßte.

Der bestellte Wagen fuhr auch schon aus dem Stern vor.

Von Lucinden hieß es, sie würde sogleich zur Hand sein; sie hätte gesagt, man sollte nur erst die Herren abholen.

Benno entsann sich seiner militärischen Pflichten. Hatte er doch heute schon die weiße Weste ausgelassen. Aber Bonaventura mußte er wenigstens einen Augenblick sprechen![110]

Er eilte auf den Friedhof und fand den Vetter in der Sakristei der Kirche beschäftigt mit den Anordnungen einer noch im Laufe des Vormittags von ihm bezweckten neuen Einsegnung der entweihten Begräbnißstätte.

Bonaventura war nicht nur von dem Fall an sich aufs heftigste erschüttert und von der Hoffnung, der Thäter würde nicht zu seiner Gemeinde gehören, in der größten Aufregung, sondern er war es noch mehr von einigen Gegenständen, die man, als dem freventlich erbrochenen Sarge in der That entfallen, ringsumher zerstreut gefunden hatte …

Mit dem allen fand ihn Benno so beschäftigt, daß er von seinem Freunde gebeten wurde, sich in der Fortsetzung seiner Reise nicht stören zu lassen. Bonaventura setzte mit der ganzen Erregung einer Natur, die in nervöser Anspannung zu leben nicht gewohnt ist, hinzu, daß er nach der vollzogenen Sühne der heiligen Stätte und einer Predigt, die er zur Erschütterung der Herzen, vielleicht zur Entdeckung des Thäters halten müsse, wahrscheinlich den Abend noch selbst in der Dechanei eintreffen würde. Einmal, sagte er, handelte es sich um eine Anzeige beim Amte in Kocher, dann aber vorzugsweise – um einige Andenken an seinen unvergeßlichen Vater, die sich denn also wirklich in dem Sarge vorgefunden hätten … Andenken, über welche er mit dem Onkel, dem Dechanten, zu sprechen die Zeit nicht erwarten könne.

Freund, dich macht der Vorfall krank! Beruhig dich! rief Benno.

Erzähle nichts dem Onkel! erwiderte der Pfarrer. Du kennst seine Abneigung gegen alles, was aufregt …[111]

Benno mochte nicht länger forschen, worin die gefundenen Andenken an den Vater bestanden. Er wußte, daß diese Gedankenverbindung um so mehr Trübsinn in dem reinen und kindlichen Gemüthe Bonaventura's wecken mußte, als sich dieser seit einiger Zeit die Meinung gebildet hatte, sein Vater lebe noch. Bonaventura hatte sich diese Meinung mit um so ängstlicherer Ungeduld gebildet, als er sogar voraussetzte, der Vater wäre freiwillig aus der Reihe der Lebenden geschieden, nur um seiner Mutter möglich zu machen, seinen jetzigen Stiefvater, Herrn von Wittekind-Neuhof zu heirathen. Wenn er dann gedachte, daß die Kirche die Ehe, auch die unglücklichste, auch die seit Jahren auf einer gegenseitigen Unfähigkeit, die Leidenschaften zu unterdrücken, beruhende und unmöglich gewordene in keiner Weise freigäbe und löste, so hatte schon Bonaventura geglaubt, sein Vater hätte sich den Schein des Todes gegeben, nur um zwei Menschen glücklich zu machen, die auf eigenthümliche Art und, wie er aus den Erzählungen der alten Renate sich entnehmen zu müssen glaubte, keine mehr zu vermeidende Weise in die engste Beziehung gekommen waren. Sieben Jahre waren seitdem vergangen. Jetzt erst kamen ihm diese Zweifel, jetzt in verstärkterer Gewalt. Benno kannte sie und mochte sie um so weniger wecken, als sie mit den wichtigsten und zartesten Lebensfragen im Gemüth des seinem Berufe so begeistert hingegebenen Priesters zusammenhingen und schon oft Gegenstand von Differenzen zwischen ihnen beiden gewesen waren. In der sichern Hoffnung, ihn vielleicht schon am Abend beruhigter in der Dechanei wiederzusehen, nahm er Abschied, setzte sich[112] in den Wagen, mit dem Hedemann auf den Friedhof nachgekommen war, und fuhr, um Lucinden abzuholen, nach dem Stern.

Auch diese war von der Meldung des in der Nacht Vorgefallenen nicht wenig überrascht gewesen.

Sogleich fragte sie nach dem Gensdarmenwachtmeister. Dieser war schon unmittelbar nach dem Lärm, der beim ersten Morgendienst des Meßners entstanden war und das Frühläuten zum Sturmläuten gemacht hatte, auf die Landstraße hinausgesprengt, dem Knechte nach, der sie gestern gefahren hatte. Man behauptete, daß der Knecht die Nacht im Stall geschlafen, lange Licht gehabt hätte und sich eines Spatens aus dem Garten des Wirthshauses bedient haben müßte, den man nicht finden konnte. Die herkulische Kraft, die zu der Ausführung des Frevels gehörte, ließ sich ihm zutrauen.

Nun gab das einen Schwung der Spannung und Erregung! Lucinde wusch und erfrischte sich so schnell, als könnte sie einen Auflauf versäumen. Ehe noch die Mägde ihre Oberkleider, Hut und Schleier gelüftet und entstäubt hatten, war sie schon mit dem schnell geordneten Kopfe aus dem Fenster. Der Zweispänner, eine stattliche Chaise, stand schon vor dem Hause, ein Kutscher klatschte, Hedemann und der Freiwillige grüßten.

So zeitig schon? rief sie zum Fenster hinaus und zog ihre stehen gebliebene kleine Taschenuhr auf, stellte sie nach dem glänzenden Zifferblatt des Kirchthurms, hing ihr Kreuz um und drängte zur Eile. Nur Milch trank sie, etwas schwarzes Brot aß sie dazu und nach einigen Minuten, obgleich Benno von Asselyn einmal[113] um das andere hinaufrief: Uebereilen Sie sich nicht! stand sie unten am Wagen.

Nachdem sie vor der Hausthür ihre Zeche berichtigt hatte, stieg sie an der Hand Benno's ein. Hedemann saß auf dem Bock neben dem Kutscher, der dem Stern angehörte. Für fremde Herrschaften war er ein Postillon, für diejenigen, die unter der Taxe reisten, blieb er in seinen gewöhnlichen Kleidern; heute aber hatte er sein Horn zu sich gesteckt und blies lustig mit hinein in das allgemeine Juchhe. Es kostete das Strafe, hörten es die Gensdarmen. Grützmacher aber und Müller jagten dem Leichenräuber nach.

Nein! rief jetzt Lucinde, an die Erzählung der Vorfälle sogleich anknüpfend. Mein Kutscher wär' es gewesen! Ich glaub' es nicht! Ich wette, der Thäter war Herr Grützmacher selbst! Er hat dem Pfarrer zeigen wollen, daß die Polizei nicht an Phantasieen leidet!

So gefällig auch Benno war, ihr den Vorfall in aller Ausführlichkeit mitzutheilen, verschwieg er doch seines Vetters persönliche Aufregung durch die gefundenen Erinnerungen an dessen Vater.

Lucinde warf dem Dorfe und dem Pfarrhause einen langen hoffnungsvoll seligen Abschiedsblick zu …

Hedemann schaute unverwandt in die Ferne. Wie wenig er auch glauben konnte, daß die Italiener an dem Frevel betheiligt waren, bekümmerte ihn doch die Belästigung, der die friedlichen Passagiere ausgesetzt sein konnten.

Allmählich gab sich auch der Postillon sowol mit dem Blasen zufrieden, wie mit seinen Mittheilungen über den[114] neu erst im Weißen Roß eingetretenen Knecht, den Vorfall mit der Stallaterne und dem Spaten, der fehlte …

Lucinde schlug, da der Staub zunahm, ihren Schleier über und forderte Benno auf, seinen Cigarren zuzusprechen. Sie war in ihrem Leben von Jérôme, vom Kronsyndikus, Klingsohrn, Serlo genug »eingeräuchert« worden.

Benno folgte ihrer Erlaubniß, indem er sagte:

Mein Onkel, der Dechant, ist galanter! Sie werden bei ihm von Tabackrauch nie belästigt werden!

Wie alt ist der Dechant? fing sie nach einer Weile an.

Ah, ah! erwiderte Benno. Wie alt! Fragen Sie das nie in der Dechanei! So alt wie Methusalem ist er nicht, aber so jung auch nicht, wie – von der guten Frau von Gülpen, die nun schon dreißig Jahre seine Wirthschaft führt, seine Geburtstage numerirt werden!

Dreißig Jahre? unterbrach Lucinde.

Eher mehr als weniger! erwiderte Benno.

Und zu Hedemann hinaufrufend, fuhr er fort:

Nicht wahr, Hedemann, als Sie vor zehn Jahren nach Amerika gingen, schwankte der Onkel um das Ende der Sechziger herum? Er müßte demzufolge jetzt siebzig sein! Aber ich will nicht gut dafür sagen, daß nicht Frau von Gülpen seine nächste Geburts- oder Namenstagstorte nur mit sechzig kleinen Wachsendchen besteckt!

Lucinden machte der Name »Gülpen« in Verbindung mit einer Geburtstagstorte einen fast märchenhaften und in der Wirklichkeit kaum möglichen Eindruck.

Hat Frau von Gülpen, fragte sie, nicht eine Verwandte, die sich Frau von Buschbeck nennt?

Benno versicherte, diesen Namen nie gehört zu haben.[115]

Hedemann! rief er; hat die Tante eine Verwandte, die sich Frau von Buschbeck nennt?

Lucinde ergänzte: Eine Schwester vielleicht?

Hedemann oben zuckte die Achseln.

Das Jahr 1809, wo ihre ehemalige Peinigerin von ihrer Lebenshöhe gestürzt sein sollte, lag über die Erinnerungen der sie umgebenden Generation hinaus.

Benno drückte am Wagenschlag die Asche seiner Cigarre ab und sagte ironisch:

Wir sind vielleicht an eine zu große Anzahl von Verwandten unserer verehrten Frau von Gülpen gewöhnt! … Ihre Nichten wenigstens … Nicht wahr, Hedemann, die Nichten der Tante –

Erstes Kennzeichen Ihres Onkels, schnitt Lucinde die zweideutige Anspielung auf den Deckmantel für die weibliche Bewohnerschaft einer geistlichen Wohnung ab – Erstes Kennzeichen also Eitelkeit!

Eitelkeit? sagte Benno. Vielleicht auf seine weißen Hände! Und doch nicht! Diese Selbsttäuschung über den Geburtstag gehört zu des Onkels Philosophie!

Zweites Kennzeichen: Philosophie! Welche Philosophie? Die, welche dem Dr. Laurenz Püttmeyer zu Eschede noch immer nicht den Hegel'schen Lehrstuhl und Fräulein Angelika Müller einen Mann verschafft hat?

Sie sind unterrichtet! lachte Benno. Nein, keine von unsern Haarrauch-Philosophieen, die die Dogmatik trigonometrisch beweisen wollen und zuletzt doch an einem Breve des Papstes zu Grunde gehen, wie die da, die seit ein Paar Tagen auf unserer Universität drüben zu leben aufgehört hat! Allerliebst, wie in unsere schöne[116] deutsche Kunst und Wissenschaft hinein ein solches römisches Kapitel sein »Kannichverstan« hineinsprechen und sogleich so in ihr herumwühlen und aufräumen darf, wie hoffentlich jetzt die Bauern von St.-Wolfgang nicht unter den Götterbildern des guten Napoleone aufräumen … Sehen Sie nichts, Hedemann?

Nichts! … war die Antwort des zuweilen seine zusammengelegte Hand wie ein Perspectiv gebrauchenden Gefährten.

Napoleone erzählte mir, der Dechant liebe die Antike! fuhr Lucinde fort. Ein Sohn Ihrer Heimat und ein Liebhaber der Kunst? …

Indem rief Hedemann einige Bauern an, die eilends des Weges kamen.

Sie waren aus St.-Wolfgang und sagten aus, daß bei den Italienern nichts gefunden wurde, was auf ihren Antheil an dem nächtlichen Verbrechen hätte schließen lassen können.

Wie mag man die Armen belästigt haben! sagte Lucinde nach einer Weile und summte, da Benno über die von ihr angedeutete Unvereinbarkeit seiner zweiten Heimat mit dem Schönen in Nachdenken verfiel, vor sich hin die Worte Mignon's:


Es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach,

Und Marmorbilder stehn und sehn mich an:

Was hat man dir, du armes Kind, gethan!


Für den da oben scheint allerdings Porzia zur Mignon geworden! flüsterte Benno und deutete auf Hedemann, der über die Unschuld der Italiener Zeichen der größten Genugthuung gab.[117]

Die Gegend gewann inzwischen einen bestimmter ausgeprägten Charakter. Man befand sich auf der Absenkung eines großen Thalbeckens, das viele Meilen weit sich in wellenförmigen Senkungen und Erhöhungen hinzog bis zu den Gebirgen, die Deutschland von Frankreich trennen. Der Naturforscher kennt diese Gegend als eine, die ihre urweltlichen Bildungsformen nicht verleugnet. Graue Basaltkegel stehen oft in der Mitte dieses Hügellandes als Reste vulkanischer Ausbrüche. Einsam ragen die abgestumpften Felsgestalten, von dünnem Zwergholz überwachsen. Oft steigen sie schroff bis zu den schärfsten und dann und wann mit einem Kreuz gezierten Spitzen hinan. Von einem höhern Punkte gesehen ist der Fernblick meilenweit, aber er ist nicht mehr wohlthuend durch Saatengrün und lichthelle Waldungen, das Land wird unfruchtbar und wie von Steinen überstreut. Vulkane müssen hier einst einen feurigen Hagelregen aus dem glühenden Innern der Erde geschleudert haben. Bei einzelnen etwas grünen Stellen, aus denen ein Kirchthurm hervorragt, kann man immer annehmen, daß sich dort das stete unterirdische Sieden und Kochen auch an einer wohlthätigen Quelle verkündigt, deren Wasser an Ort und Stelle zum Baden dient, erkaltet in Krügen weiter ins Land geführt wird. Kleine Seen finden sich viele; desto weniger Bäche. Der einzige größere ist jener »Fall«, an welchem Kocher liegt, eine von jenen uralten, schon in die Römerzeit zurückreichenden Städten der sagen- und erinnerungsreichen Gegend.

Hatte man weniger den zuletzt vom Hundsrück und den Ardennen begrenzten düstern Höhenblick, so fehlte[118] es abwärts in den Kesselthälern nicht an Abwechselung. Die Cultur hatte dem steinigen Boden abgerungen, was diese nur an Fruchtbarkeit, wenn auch nur für Gerste und Hafer, irgend hergeben wollte. Und belebt war bei alledem die Gegend doch. Selbst auf der Landstraße begegnete man, außer Landbewohnern, Soldaten, die wie Benno sich beim Stabe einstellen mußten, manchem Geistlichen zu Fuß, manchem im Wagen; des Verbeugens vor Heiligenbildern und vor offenen Kirchthüren wurde fast kein Ende und selbst vor einer Procession mußte der Wagen halten. Jetzt nach der Ernte begannen die Wallfahrten zu manchem wunderthätigen Gottes- oder Heiligenbilde. Auch war man ziemlich nahe schon jener hochbegnadeten Stadt, die den heiligen Rock des Herrn selbst besitzen will und allerdings die ältesten Märtyrer und Heiligen aufzuweisen hat, ja die den heiligen Athanasius einst beherbergte, als er aus Aegypten vor den Arianern floh. Die Zeit war herangekommen, wo gerade des Athanasius' Andenken lebhaft erneuert werden sollte; mancher hohe Würdenträger, ja der Kirchenfürst der Provinz selbst eiferte ihm nach.

In einem Dörfchen wurde gefüttert.

Als man gegen zehn Uhr weiter fuhr, fiel es auf, daß die Reisewagen mit höhern Geistlichen sich mehrten …

Benno erinnerte wiederholt daran, daß in Kocher eine geheime Verabredung sollte getroffen werden, der selbst Dominicus Nück, sein Principal, nicht fremd war.

Er meinte jenes Rütli, auf dem Bonaventura als Tell fehlen durfte, ob Lucinde gleich, zur Mehrung ihrer Erregung, allmählich vernommen hatte, daß der Pfarrer[119] vielleicht doch noch diesen Abend gleichfalls in der Dechanei eintreffen und so sich schon sobald ihr seliges Hoffen erfüllen könnte, wie oft – wie oft Ihm nahe zu sein! …

Mit dem Steigen der Sonne wurde es schwüler und schwüler. Gegen elf Uhr kündigte sich ein Gewitter an. In der Gegend von Kocher her lagerten sich schon dunkle, tief graublaue Wolken …

Benno fing allmählich an in seiner schroffen Beurtheilung Lucindens nachzulassen. Einzelne ihrer Redewendungen, das Mitleid mit den Italienern, die vor einigen Stunden fast mit Rührung gesprochenen Goethe'schen Verse hoben ihm immermehr ihre Erscheinung. Da sie die schwüle Luft bestimmte, den Schleier zurückzulegen, so musterte er mit geringerer Abneigung auch ihren heute fast vornehm sich gebenden äußern Eindruck. Lässig und wie hingegossen lag sie in der Ecke des Wagens. Der schottische Mantel war ihr von den Schultern geglitten und so krampfhaft auch der jetzt eingeschlagene kleine Sonnenschirm von ihr auf die grauen Zeugstiefelchen, die den kleinen Fuß bedeckten, gestemmt wurde, der Eindruck war der der Ruhe und fast einer höhern Ergebung. Gestern hatte sie von der Anstrengung und Ermüdung der Reise älter ausgesehen als sie war. Heute gab ihr eine geringere Röthe des Antlitzes, ja ein wachsbleicher Teint etwas Vergeistigtes. Die langen schwarzen Wimpern bedeckten die unruhigen Augen. Die Athemzüge wurden ersichtlich aus der hoch sich hebenden Brust. Es war wie ein Hauch über ihr ganzes Wesen gekommen, der ihre Formen anschwellen und sie in plastischerer Vollkommenheit erscheinen ließ.[120]

Benno spielte mit seiner Cigarre den Gleichgültigen und war es schon lange nicht mehr. Er sah hierhin und dorthin und gab sich, wie absichtlich, den Schein der Gewöhnlichkeit und prosaischsten Nüchternheit; dennoch hielt er bei alledem den Gedanken fest: Wenn sie sich nur nicht rührt! Wenn sie nur in dieser Stellung verharrt, die Augen, die kalten, nicht aufschlägt, nicht redet, ganz so bleibt, wie sie dasitzt, fast liegt, träumerisch, ohne Berechnung, ohne Koketterie und Bewußtsein von ihrem sich mehrenden Reize!

Lucinde merkte aber schon das Interesse, das sie einflößte. Leise blitzte unter den Wimpern ihr Auge. Fast seitwärts schielend sah sie auf. Die Magie des Eindrucks war zerstört.

Woran dachten Sie eben, Fräulein? fragte Benno erschreckend vor einem so immer in Thätigkeit verbleibenden Verstande.

Lucinde blieb in ihrer hingegossenen Stellung, rückte und rührte sich nicht, senkte die Augen und sagte:

Ich sehe Bilder vor mir, die mir Mignon und der Harfner weckten … katholische Bilder …

Malen Sie sie aus!

Benno blies den Dampf seiner Cigarre fort.

Ich sehe ein Schloß und sehe Menschen … die ganz wie in Mondschein getaucht sind … Ein schöner Park umgibt das altmodische Gebäude … Es hat epheubewachsene Thürme und Galerieen … Kleine Buchsbaum- und Taxushecken ziehen sich unter den Fenstern hin … Springbrunnen rieseln … Pfauen schlagen ihre schönen Räder … Bildsäulen lauschen versteckt aus Jasmin- und[121] Geisblattbüschen … Dazu ertönt vom Söller die Mandoline … Ein Pilger schlägt sie … Auf der Altane werden von einer Dame Lieder gesungen aus einem alten Pergamentbuch … ein Mönch, der Liebling und Erzieher des Hauses, steht hinter ihr und schlägt die Noten um … Und wenn dann fernher die Glocken klingen oder ein Jäger im Walde ein Ritornell verhallen läßt, geht alles zur Ruhe … Nun steigen die lieben Englein nieder … Die kleinen bausbackigen Jungen schleppen Violinen und große Contrabässe herbei … sie musiciren und das so, daß die Frösche mit Jubel einfallen, die Heimchen mitschrillen … Alles neckt sich … Blume und Käfer … bis endlich die Sonne am fernen Horizont mit rosigen Streifen sich ankündigt … Willkommen o seliger Morgen … Alles blitzt im Thau … es läutet zur Messe … dann Wagengerassel … es kommen vornehme Abbates und Prälaten … die Kinder des Hauses spielen mit ihnen nach der Andacht, spielen selbst mit dem Strick des Franciscaners, der am Abend die Noten umschlug, und lassen ihn Pferdchens springen … dazu summen die Bienen, schwirren die Käfer … und wenn bei Tisch auch noch soviel Wein aus schönen hochgespitzten bunten Gläsern getrunken wird und braunglänzende Braten hoch aufgetragen werden, wie in den Bildern des Paul Veronese … es geht doch heilig und weltlich immer in eins … die Reste des Mahls und Wein, diesen in einer hohen strohumwundenen Flasche, schickt man dem frommen Eremiten Federigo unter den Eichen von Castellungo, der dafür die Kinder mit Bildchen beschenkt, die er in seiner einsamen Hütte[122] malt … oder sie das schwere, wie Steine rasselnde Deutsch lehrt, wenn es zufällig Kinder eines italienischen Conte sind … oder ihnen in seinen hohlen Eichen Rendezvous vermittelt, wenn sie größer werden und verliebt sind … Doch sehen Sie nur, unterbrach sie sich in ihrer Schilderung plötzlich selbst; es gibt wirklich ein Wetter!

Sie Glückliche, lachte Benno, Sie können Ihre Phantasie zu Hülfe nehmen, wenn nicht alles auf der Dechanei so zutrifft, wie Sie's sich gedacht und ausgemalt haben!

Ganz recht, bestätigte Lucinde, eben die Dechanei, die dacht' ich mir so … mutatis mutandis –

Mutatis mutandis? wiederholte Benno und sah sie, erstaunend über ihr Latein, an.

Ich meine die Kinder …

Verstehe! Verstehe!

Es trat eine Pause ein, in der Lucinde den Triumph genießen konnte, sich sagen zu dürfen: Du kalter, ein gebildeter junger Mensch, glaubtest mich so über die Schultern ansehen und nach den Aussagen der alten Renate, Grützmacher's und wer weiß, ob nicht auch deines so grausamen, so tugendkalten und mich glücklichunglücklich machenden Bonaventura beurtheilen zu können!

Und auch Benno fühlte vollkommen, was sie dachte. Nach einer Weile sagte er:

In der Hauptsache werden Sie es wirklich so in der schönen Dechanei finden! Sie könnte allerdings ganz in ein Gedicht von Clemens Brentano passen! Selbst die Pfauen fehlen nicht! Noch mehr, der Onkel hat einen alten Diener, dem er gestattet in den Sternen zu lesen …[123]

Das ist schlimm für seine Teller! unterbrach sie. Aber?

Frau von Gülpen …

Frau von Gülpen?

Benno zuckte die Achseln und deutete an, daß mit diesem Namen die in Kocher am Fall zu erwartende Poesie ein Ende hätte.

Lucinde verstand diese Geberde. Mit tiefschneidender Ironie sagte sie:

Also Frau Renate die Zweite!

Und wie sie dann hinzufügte: O Männer! Männer! … so war dies doch ein Ton, als hätte Benno aufspringen müssen, ihre Arme zu fassen und sie niederzudrücken mit den Worten: Schwaches Weib, glaubst du denn allmächtig zu sein? … Es war der Glutenstrom, den Armgart gestern aus ihr herausgehen gefühlt hatte, der Glutenstrom, unter dessen Gewalt vielleicht die Gräfin Paula vergangen wäre, wenn sie nicht Bonaventura durch ihre Entfernung gerettet hätte; aber auch der Glutenstrom wieder, der ihm sympathische Naturen heben und zum Gefühl der Unsterblichkeit hätte beleben können und von dem sich trennen zu müssen einst Klingsohrn zur Verzweiflung brachte.

Zum Glück für Benno's sich mehrende Aufregung gab es Zerstreuungen am Wege und bald auch kühlte er sich ab durch Lucindens rückkehrende Koketterie. Sie sprach von Armgart und verrieth ihre Absicht, ihren Begleiter zu Vergleichungen zu veranlassen. Nun war es aber doch wie eine sanfte Musik, die über Benno sich ergoß, als er Armgart so nennen hörte. Mit jener ironischen Schärfe, die seinen Zügen nicht bitter oder gar faunisch wie Klingsohrn,[124] nicht elegisch wie Serlo stand, sondern die eine große Anmuth in dem männlichen, edelgeformten Antlitz verbreitete, die schönsten Zähne zeigte und den Augen eine schelmische Gutmüthigkeit lieh, sagte er:

Lieber Himmel, mein Fräulein! Sind Sie denn wirklich schon so alt, daß Sie sich an Armgart's Jugend ewig rächen zu müssen glauben! Lassen Sie doch die Kleine noch so kindisch sein wie sie ist! Hedemann, wie oft haben Sie ihr die Rettungsthat aus Canada erzählen müssen?

Hedemann wandte sich und sagte, er selbst hätte das nur einmal gethan, aber Herr de Jonge wol ein Dutzend mal.

Herr de Jonge! fuhr Lucinde, die Vennon über seine Aeußerung nicht zürnte, fort. Wer ist Herr de Jonge? Ein Reisegefährte des Herrn Hedemann? Erzählen Sie! Wir genießen das Gefühl, noch im Trockenen zu sitzen! Sehen Sie nur dort drüben, oberhalb der schwarzen Berge, wie es da schon niedergießt!

In Kocher am Fall! bestätigte Benno mit nachdenklichem und zerstreutem Tone.

Also, Herr Hedemann! Die Rettung aus Canada! Wer ist Herr de Jonge?

Sie werden ihn vielleicht in der Dechanei finden! erwiderte Hedemann und um gleichsam auf diese Art der Erzählung überhoben zu sein.

In der Dechanei? Um so mehr müssen wir auf ihn vorbereitet sein! Wer ist gerettet worden? Wer hat gerettet? Erzählen! Erzählen!

Diesem Humor ließ sich nicht widerstehen …[125]

Benno zündete sich eine neue Cigarre an und begann:

Das beste Schiffsbauholz –

Hedemann hielt sich auf dem Bock die Ohren zu, als wollte er sagen: Diese tausendmal wiederholte Geschichte! Ich kann sie nicht wieder hören!

Das beste Schiffsbauholz, fuhr Benno mit um so größerm Nachdruck fort …

Die Cigarre war noch nicht im Gange …

Das beste Schiffsbauholz – wiederholte Lucinde, um gleichsam den Faden festzuhalten …

Bieten die Urwälder Canadas! Sie wissen doch, Fräulein, wo Canada liegt?

Lucinde dachte an ihre Langen-Nauenheimer Wandlandkarte und zeigte mit dem Sonnenschirm fest und sicher nach Westen hinaus.

Mutatis mutandis! bemerkte Benno … Es konnte heißen: Wer Latein kann, weiß auch das! Oder: Da so herum ist allerdings richtig, aber Amerika besteht nicht aus Canada allein!

Das beste Schiffsbauholz, fuhr er fort, bieten die Urwälder Canadas, und die bequemste Gelegenheit, es auf dem Lorenzostrom und von da ins Weltmeer und nach England und Holland zu transportiren, findet man bei den vielen Nebenströmen des Lorenzo durch die furchtbaren Fälle derselben. Ich weiß nicht, ob sich unser Freund Thiebold de Jonge, Sohn der großen Handels- und Holzfirma »De Jonge's Erben« drüben in der Residenz des Kirchenfürsten, auf dem St.-Moritzstrome quer über die tausendjährigen Eichen setzte und mit ihnen die drei- bis fünfhundert Fuß stürzenden Fälle hinunterschwamm[126] in seinen carrirten schottischen Inexpressibles; nur so viel ist geschichtlich bekannt geworden und in Lindenwerth der abendliche Geisterspuk, wenn die Englischen Fräulein über die Lectüre des »Telemaque« einnicken, daß eines Tages, Sonntags, nicht wahr, Hedemann? …

Sonntags … antwortete dieser kopfschüttelnd …

Eines englischen Sonntags also, wo die Engländer auch in Canada daheimsitzen und keine Landpartieen aus Quebec oder Three Rivers in jene Gebirge hinauf machen, aus denen der St.-Moritz mit den tausendjährigen Eichen der Firma »De Jonge's Erben« niederstürzt – zwei so melancholische Hypochonder wie der Oberst von Hülleshoven und sein Freund und Rathgeber da, Remigius Hedemann aus Borkenhagen bei Witoborn, nach Montreal wollten oder nach Isle de Jesus, wo man noch eine gute und richtige römische Messe zu hören bekommen kann in dem abtrünnigen ketzerischen Amerika …

Hedemann schüttelte den Kopf …

Nicht? fuhr Benno fort. Sieh! Sieh! Euch denuncir' ich doch noch der Inquisition! Ihr kommt mir beide schon lange so vor, als wenn Ihr in den alten Wäldern, wo die Indianer dem »großen Gotte« scalpirte Menschenköpfe zum Opfer bringen, heiligere Schauer verspürt haben wollt als in unserer alten borkenhagener Dorfkirche! Schämt Euch! Steigen die beide da nun herum über die Felswände in der Nähe des kleinen Patersonsees und träumen von vergangenen Tagen und künftigen englischen Halbsoldpensionen. Da scheu sie plötzlich einen jungen lustigen Dandy gerade unter dem letzten Sturz des St.-Moritz herumhüpfen, wie wenn[127] er hätte eine von den Töchtern der hochmögenden Frau Walpurgis Kattendyk zum Tanze führen wollen! Die reichste Familie drüben in der Residenz des Kirchenfürsten, Fräulein!

Keine Ausschmückungen! sagte Lucinde.

Der Oberst, fuhr Benno fort, zeichnet gerade den malerischen Sturz, Hedemann raucht eine transatlantische Originalcigarre, da verschwindet plötzlich der Tänzer und beide wissen nicht, war es ein absichtlicher oder unabsichtlicher Entrechat, nach dem die beiden Firnißstiefel plötzlich aufhörten in der Sonne zu glitzern. Von einem Hülferuf konnte nicht gut die Rede sein, denn der St.-Moritz donnert dort zwar nicht wie der Niagara, spricht aber doch immer noch vernehmlicher als unser immer zahmer und kleinlauter werdender Rheinfall bei Schaffhausen … (ob man sich gleich auch noch jetzt bei dem in der Taxe für die Ueberfahrt verhören und drüben einen Franken zahlen kann, wenn man hüben nur auf einen halben bedungen zu haben glaubt). Ringsum, wie gesagt, englischer Sonntag! Man wußte, daß in einem Orte Namens Forges eine Colonie von Flößern wohnt, die jedoch auf keine sonntägliche Wasserpartieen begierig schien und daheim trotz der Hitze vielleicht irgendeinen soliden Gin-Punch braute. Nur jenen einen Tänzer hatte man bemerkt. Da er nicht wieder zum Vorschein kam, wurden unsere Menschenfeinde denn doch ein wenig unruhig, und der ärgste aller Timone, dort unser Hedemann, beliebte zu äußern: Wenn nur das Bürschchen nicht in den Sturz gefallen ist! In den Sturz nämlich, von dem man die ganze Ausdehnung von dem Orte, wo sie sich befanden,[128] nicht übersehen konnte! Man macht sich nun allmählich auf, klimmt empor, erreicht den Rand der Felsen, durch die der St.-Moritz sich hindurchdrängend in einen Kessel niederstürzt, aus dem hochauf eine riesige Schaumkrone sich erhebt und dann pfeilgeschwind weiter gleitet dem Lorenzo zu. Sie entdecken da nichts. Alles still; nur wilde Vögel fliegen quer über den Sturz, dessen Schaumtropfen hoch hinaufspritzen, daß die Dinger wie taumelnd mit benetzten Flügeln das Weite suchen … Da plötzlich entdeckt Hedemann's scharfes Auge unten an einem Felsenvorsprung eine Mütze, eine so elegante, wie sie nur Herr Thiebold de Jonge getragen haben konnte. Nun stand es fest, daß der Tänzer verunglückt war. Zu sehen war nichts. Man rief englisch, deutsch, französisch. Keine Antwort. Aber die Mütze lag da auf der Felsenkante und erst von dieser an konnte man senkrecht in die Tiefe blicken. Nun wuchs die Besorgniß. Sie steigerte sich mit dem immer gleichen Donnern und Zischen der aufspritzenden weißen Strudel, die ihr Opfer verschlungen hatten, wenn der Gestürzte nur einen Fuß breit von der Felswand weiter entfernt lag und sich im Niedergleiten nicht an der Wand irgendwie noch hatte halten können. Wer stieg die Wand zuerst hinunter, Hedemann?

Der Oberst!

Erzählen Sie selbst, Herr Hedemann! unterbrach jetzt Lucinde. Herr von Asselyn, scheint es, brodirt die Geschichte, wie wenn sie in den Exercices des strasburger Englischen Fräuleins gestanden hätte zum Uebersetzen ins Deutsche![129]

Da Benno es des drohenden Näherkommens der aus zwei Richtungen heraufziehenden Gewitter wegen für gerathen halten mußte, vorläufig das Hinterdeck der Chaise aufzuschlagen, wobei ihn der Quasi-Postillon hinunterspringend unterstützte, so nahm Hedemann nach Benno's Ausdruck nicht nur die Leine, sondern auch den Faden der Erzählung auf und berichtete schmuckloser.

Er erzählte, daß anfangs der Oberst und er, beide zu gleicher Zeit, den Entschluß gefaßt gehabt hätten, sich gegenseitig unterstützend bis zu dem Vorsprunge niederzusteigen, wo die Mütze lag. Freilich war damit schon Lebensgefahr verbunden, doch rollte kein Steinchen von der fast senkrecht niedergehenden Felsmauer. Bedenklich wäre schon das Wagniß gewesen, sich nur überzubeugen und weiter in die Tiefe zu sehen. Der Oberst hätte das aber gethan, während Hedemann, sich mit den Fingern in die Wand einbohrend, ihn krampfhaft gehalten. Lautlos hätte er nach erstem Bekämpfen des Schwindels sich wieder zurückgelehnt und nur mit dem Kopfe genickt, als könnte schon der Schall der Worte die Kraft haben, die schmalen Steine, auf denen sie sich hielten, loszubröckeln. Mit Lebensgefahr wäre man emporgeklommen und nun hätte der Oberst berichtet, daß ein junger Mann dicht am Rande des tosenden Sturzes anscheinend todt läge. Er wäre dann gerettet worden …

Was? Wie? fuhr Benno auf. Wer erzählt so!

Zerschmettert vom Niedersturz, fuhr er mit pathetischer Stimme fort; zerschmettert vom Niedersturz konnte der Verunglückte nicht gewesen sein, denn der Fall war dicht an der Felswand entlang; ein Beweis, daß der[130] Gefallene anfangs die Besinnung behalten hatte und an der Felswand niedergeglitten war. Unten aber konnte die Erschöpfung, ja schon der Luftdruck des niederstürzenden Flusses, der bereits an dem kleinen Pavillon zu Lauffen beim Rheinfall den Athem benehmen kann, ihn vielleicht nicht mehr zur Besinnung kommen lassen –

Sie mußten wol, fragte Lucinde zu Hedemann, wie zu einer authentischem Quelle hinauf, nach jener Colonie, wo die Holzschläger wohnten?

Sehr richtig, mein Fräulein! sagte Benno. Eine halbe Meile, und des beschwerlichsten Weges! Es vergingen drei Stunden, bis man an der einzigen Stelle, wo die Rettung möglich war, mit Stricken, Leitern und Stangen ankam. Der Schrecken war nicht gering in der Colonie. Der junge respectable Herr Thiebold de Jonge hatte diesen Spaziergang auf eigene Hand gemacht, während zwei Commis, ein Diener und einer der besten Holzmesser des Geschäfts, der die jungen Leute auf dieser Gewinn versprechenden Unternehmung begleitet hatte, in der Niederlassung zum Studium canadischen Gin-Punsches zurückgeblieben waren. Die Verzweiflung derselben verdreifachte die Anstrengungen, die man zur Rettung machte, und doch würde sie nicht gelungen sein, wenn das schwierige Anbringen der Leitern, der Stricke und Stangen nicht von den beiden tapfern Soldaten geleitet worden wäre. Der Oberst war der erste unten. Der Verunglückte lebte noch. Er war allmählich von einer Betäubung erwacht, um mit Schaudern zu gedenken, daß er, wenn ihn niemand hier aufsuchte, des elendesten Todes hätte sterben müssen. Eine Stunde verging in dieser[131] grauenvollen Vorstellung. Sein Rufen verhallte im Wassersturze. Endlich kam Rettung. Sie war schwierig, aber sie gelang, wie Sie heute noch an meinem Freund de Jonge sehen werden. Sie gelang auf folgende Art. Erstens …

Genug! Genug! sagte Lucinde und wandte sich an Hedemann: Das gab gewiß eine glückliche Scene!

Des Dankes? Der Rührung? Im Gegentheil! antwortete pathetisch für diesen Benno. Unsere zwei Söhne der Moorheide enthüllten nur oberflächlich ihr Incognito, nahmen vor zwei Jahren den gleichgültigsten Abschied von ihrem ewigen Schuldner, nicht einmal einen schönen Gruß bestellten sie durch ihn nach Borkenhagen oder Westerhof oder Kocher am Fall. In Quebec erfuhr der Gerettete die Namen des deutschen Obersten und seines nicht im activen Dienste stehenden Gefährten; er wollte ihre Rückkehr in Garnison abwarten, aber sein Schiff war »klar«, er reiste ab mit Hinterlassung einer Menge von Danksagungen und Geschenken. Erst hier in Europa sahen sie sich zufällig in der Residenz des Kirchenfürsten wieder. Heute in Kocher am Fall bei diesem Wolkenbruch werden sie sich an die Strudel des St.-Moritzflusses zurückversetzt fühlen!

In der That brach jetzt das Wetter auch über die Reisenden mit furchtbarer Gewalt aus.

Man bot Hedemann an, daß auch das Vorderverdeck aufgeschlagen würde und er schleunigst hereinkäme.

Hedemann öffnete aber nur den Soldatenmantel Benno's und lehnte einen Aufenthalt um so mehr ab, als ein in der Nähe liegendes Wirthshaus bei schnellem[132] Zufahren sofort erreicht sein konnte. Dort wollte man Rast halten und den Wagen vollends verschließen.

Das Wirthshaus lag an einem Kreuzpunkte mehrerer Landstraßen.

Immer größer wurde die Zahl der sich eilenden soldatischen Kameraden, die in Blusen und Kitteln gen Kocher zogen. Manche Bekanntschaft gab es in der jähen Flucht der sich Bergenden mit winkender Hand zu grüßen. Auch der Major der Gensdarmen, unter dem Grützmacher stand, wurde auf einem Gaule dahinjagend ersichtlich … Von der nördlichen Straße kam ein geschmackvolles Reisecoupé herangesprengt … Zwei Uniformen saßen darin, die aus dem Wagen sich vorbeugten, eine, die einem Offizier, eine andere, die, wie Benno, einem Gemeinen angehörte …

Letzterer sprang in dem Gedräng an dem Wirthshause noch vor dem Offizier heraus … Und wie fast zu gleicher Zeit auch das Gefährt aus St.-Wolfgang anhielt und der Soldat den im triefenden Mantel sitzenden Hedemann erkannt hatte, kam er zu diesem herangesprungen, ihm die Hand zu schütteln und ihn fast zu umarmen. Jetzt hielt ein Diener in Livree einen Regenschirm über dem Soldaten – ein wunderlicher Contrast zu seiner Jacke als Gemeiner. In dem Durcheinander des Erkennens, dessen Reihe nun auch an Benno kam, des Verfahrens, der Begrüßungen da und dort, des aus dem herabgelassenen Schlage Hinausspringens und unter das schützende niedere Dach Eilens auch von Seiten Lucindens war ihr vernehmbar und ersichtlich geworden, daß der neue Ankömmling Herr Thiebold de Jonge war.[133]

So eilig sie in die dumpfe, von Menschen überfüllte Wirthsstube lief, sah sie doch, daß der am Wasserfall von St.-Moritz Gerettete eine schlanke Gestalt von lebhafter Beweglichkeit und dreisten und gefälligen Formen war. Er trug helle Glacéhandschuhe, Firnißstiefel, eine Piquéweste unter der nur am obern Knopf geschlossenen Uniform vom feinsten Tuche und eine carrirte Reisemütze, wie sie mehr einem reisenden Engländer als einem Landwehrmann angehören konnte.

In der Wirthsstube sah man Soldaten, Bauern, Viehtreiber, Hausirer, Geistliche, alles was der Regen nur hereinfegte. Lucinde hörte bald, daß der Vorfall mit dem Grabe in St.-Wolfgang schon allgemein bekannt geworden war … Major Schulzendorf erörterte ihn draußen mit den eben Angekommenen und dem Landwehroffizier, dem Begleiter Thiebold's … Hedemann war inzwischen verschwunden. Ohne Zweifel suchte er die nicht sichtbaren Italiener auf. Daß sie zugegen waren, sah Lucinde an ihrem ausgespannten Wagen vorm Hause.

Angegriffen von der Fahrt, erregt von allen neuen Mittheilungen und Eindrücken, fast erstickend von der Schwüle des kleinen Saales und betäubt von den lärmenden Stimmen der vielen Menschen, stand sie am Fenster. Die Blitze warfen über die ganze Ebene hin ein magisches Licht. Seltsam glänzte und strahlte das graue Gestein der vulkanisch zerrissenen Gegend.

Ihre Begleiter kamen nicht in den Saal und sie selbst mochte sie nicht aufsuchen. Sie erfuhr, daß es bis Kocher nur noch eine halbe Stunde zu fahren war.

Schon nach kurzer Zeit hatte im Regen der Kutscher[134] den Wagen draußen ganz geschlossen, wie sie am Fenster stehend beobachtete. Die Pferde wurden nicht ausgespannt und Lucinde konnte annehmen, daß ihre Begleiter sofort weiter zu fahren wünschten.

Doch kamen sie lange nicht zurück …

Sie wartete und wartete …

Es verging fast eine halbe Stunde.

Endlich ließen sich draußen schon die Italiener sehen.

Auch der Regen hörte auf. Die Wolken theilten sich. Die Italiener schienen an ihre Weiterreise zu denken.

Lucinde trat jetzt aus dem Saale hinaus, wo sie so lange am Fenster sinnend und träumend gestanden hatte.

Sie suchte nach ihren Reisegefährten, die sie so auffallend vernachlässigten …

Eben war sie im Begriff, den Alten, Napoleone Biancchi, zu grüßen, als sie, unter dem Thorwege stehend, nach dem Hofe und Garten zu einen lauten Wortwechsel und plötzlich aufs allerheftigste eine Stimme: Hedemann! rufen hörte.

Sie wandte sich. Mehrere andere folgten ihrem Beispiel. Einige der Hausirer sprangen hinzu nach der Gegend hin, wo der Ruf hergekommen war.

Das war ja Benno's Stimme! sagte sich Lucinde.

Wie sie dem Beispiel der andern folgend sich wandte, um dem Hofe zuzueilen, kreuzte ihre Schritte, wie auf der Flucht, leichenblaß und mit furchtentstellten Zügen, Porzia … Ihr jüngerer Bruder Catone lief hinter ihr her und trug ihren Hut, der ihr entfallen gewesen schien.[135]

Trug diese Begegnung schon den Charakter eines Moments – denn ebenso schnell war Porzia verschwunden und auf dem Wagen bei ihrem staunenden Vater und ihrem ältern Bruder, der schon die Peitsche in der Hand hielt –, so war der Anblick, der sich allen nun schnell herbeigekommenen Beobachtern im Hofe darbot, wie die plötzliche Versteinerung der lebendigsten Scene.

Der Hof und Garten gingen in Eins … Unter der Kegelbahn schienen die Italiener ein einfaches Mahl gehalten zu haben … Auch vom Hause aus konnte man in die Kegelbahn eintreten, wo man einen gedeckten Tisch sah … Hedemann, Benno, Thiebold de Jonge und der Landwehroffizier bildeten eine charakteristische Gruppe … Hedemann's breitkrämpiger Sommerhut lag auf dem nassen Boden im Garten draußen, er selbst stand wie wutschnaubend und wie zum Angriff … Benno vor ihm, ohne ihn zu berühren, doch in der Geberde, die den gewaltigen Ruf: Hedemann! begleitet haben mußte … Thiebold de Jonge stand schützend vor dem Offizier, dem seinerseits die Mütze gleichfalls entfallen war und ein plötzlicher Schreck alle Farbe geraubt hatte …

Wie die Menschen neugierig herzugelaufen kamen, riß Benno den in jeder Ader zu einem Angriff gerüsteten Hedemann in den hintern Garten. Er folgte gelassen jetzt wie ein Kind und willenlos und nur noch das eine Wort kam allen hörbar von seinen bebenden Lippen:

Herr – von – Enckefuß!

Jede Silbe war betont … in jeder Schwingung der wenigen Worte lag die Andeutung, als wollte er sagen: Wir beide kennen uns doch wol?[136]

Ein Aufenthalt in der Beurtheilung und Vermuthung über alles das war nicht möglich, denn Thiebold de Jonge trällerte soeben laut eine Arie und zog den Lieutenant, wie wenn nichts vorgefallen wäre, gleichsam tänzelnd fort. Er führte den Erschrockenen, der seine Mütze aufhob, auf einem andern Wege gleichfalls in die grünen Gebüsche hinaus …

Bald kam Benno, der Lucindens ansichtig geworden war, aus einem, wie man sah, mit den lebhaftesten Demonstrationen geführten Gespräch mit Hedemann nach vorn und sagte zu Lucinden:

Bestes Fräulein! Sie werden gutthun, lieber allein vorauszufahren! In der Dechanei kommen Sie gerade noch zu einem Mahle an, das heute zu Ehren der fremden Geistlichen stattfindet! Eilen Sie! Sie finden den Onkel und die Tante dann im besten Humor! Wir andern – wir bleiben noch eine Weile zurück – Gelegenheit, sehen Sie, gibt es genug nach Kocher am Fall und mein Absteigequartier ist ohnehin nicht in der Dechanei, sondern seitwärts in einem kleinen Weinberge, den der Oberst bewohnt!

Aber Hedemann? … fragte Lucinde forschend und um so teilnehmender, da sie der Name »von Enckefuß« an die alten düstern Begegnungen ihres Lebens, an den Rittmeister, den »schönen Enckefuß«, erinnerte …

Fährt mit uns oder geht nach dem Regen lieber zu Fuß … Sehen Sie nur, dieser Thonboden saugt eine Ueberschwemmung ein, so durstig ist er! Adieu, Fräulein! Heut Abend oder morgen in der Dechanei! Viel, viel Glück![137]

Diese Willensäußerung und Verabschiedung waren zu bestimmend.

Benno begleitete schon Lucinden an den Wagenschlag und half ihr mit Artigkeit einsteigen.

Ehe sie sich noch gesammelt hatte, ehe sie nur ihre Frage: Aber was ist denn nur vorgefallen? ausgesprochen, fuhr sie schon von dannen.

Eine Aufklärung konnten die Italiener geben. Diese aber hatten schon eine andere der vielen hier sich kreuzenden Straßen eingeschlagen, nicht die, auf welcher sie nun selbst nach Kocher fuhr.

Vom Kutscher konnte sie nichts Anderes über den Vorfall erfahren, als daß jener Herr von Enckefuß aus der Residenz des Kirchenfürsten und zu den Landwehrübungen kam wie alle andern.

Bald aber glaubte sie den Vorfall so zu verstehen: Der Offizier verfolgte Porzia, Hedemann trat dazwischen, ein Wortwechsel entstand, ein Streit, Benno aber hielt Hedemann zurück, einem Offizier in Uniform eine Beschimpfung anzuthun, die diesen hätte zwingen müssen, vielleicht Hedemann zu – durchbohren …

In dem Ton, wie Hedemann den Namen: Herr von Enckefuß! gerufen, lag eine Andeutung, daß sie sich kennen mußten. Was hinderte sie, anzunehmen, daß sie dem Sohne des »schönen Enckefuß« begegnet war, desselben Landraths und Freundes des Kronsyndikus, vor dem sie selbst oft genug ebenso, wie jetzt Porzia, entflohen war?

Nach einer halben Stunde, gegen halb zwei Uhr, sah sie am Rande eines eigenthümlich geformten, schroffen,[138] fast sargähnlichen, dunkeln Bergrückens das Städtchen Kocher am Fall.

Eine hohe Kuppel mit vier Thürmen ringsum gehörte ohne Zweifel dem Dom von St.-Zeno an …

Auf ihrer Brust wurde es schwerer und schwerer, je mehr sie hinüberblickte zu der Kathedrale, die mäßig hoch auf einer terrassenförmig sich erhebenden Anhöhe lag. Diese kleine Anhöhe beherrschte auf dieser Seite die Stadt, während auf der andern der düstere Sarg des Gebirges lag.

Jetzt fuhr sie auf gekieselten Wegen durch smaragdgrüne, vom Regen funkelnde Wiesen; dann lenkte der Wagen in Baumalleen ein, die von geschnittenen Hecken durchbrochen wurden …

Unmittelbar um ein im Quadrat liegendes kleines Schloß zwar nicht so phantastischen, wie sie in ihrer Vision gesehen, doch gefälligen alten Geschmacks zogen sich Blumen- und Gemüsegärten … alles hatte einen vornehmen, sehr gepflegten Anstrich …

Das Schloß war mit mancher Bildhauerarbeit geziert.

An der Pforte, wo zwei gewaltige Karyatiden einen Balcon mit einst vergoldet gewesenem Eisengitter trugen, fuhr der Wagen an, ohne sogleich empfangen zu werden.

Der Kutscher mußte absteigen und klingeln.

Es scholl weithin wie mit doppelten Zügen, die den Klang der ersten Glocke nach einer zweiten übertrugen.

Ein alter freundlicher Diener in weißen langen Haaren – wahrscheinlich der in Aussicht gestellte Sternseher –[139] erschien, spitzte klug die Augen, orientirte sich, lächelte wohlwollend und fein und öffnete den Schlag.

Er hatte eine Serviette über dem Arm, zum Beweise, daß man im Hause mit dem Diner beschäftigt war.

Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 2, Leipzig 1858, S. 109-140.
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