Die Löwenbraut

[304] Mit der Myrte geschmückt und dem Brautgeschmeid,

Des Wärters Tochter, die rosige Maid,

Tritt ein in den Zwinger des Löwen; er liegt

Der Herrin zu Füßen, vor der er sich schmiegt.


Der Gewaltige, wild und unbändig zuvor,

Schaut fromm und verständig zur Herrin empor;

Die Jungfrau, zart und wonnereich,

Liebstreichelt ihn sanft und weinet zugleich:


»Wir waren in Tagen, die nicht mehr sind,

Gar treue Gespielen wie Kind und Kind,

Und hatten uns lieb, und hatten uns gern;

Die Tage der Kindheit, sie liegen uns fern.


Du schütteltest machtvoll, eh wir's geglaubt,

Dein mähnen-umwogtes, königlich Haupt;

Ich wuchs heran, du siehst es, ich bin

Das Kind nicht mehr mit kindischem Sinn.


O wär ich das Kind noch und bliebe bei dir,

Mein starkes, getreues, mein redliches Tier;

Ich aber muß folgen, sie taten's mir an,

Hinaus in die Fremde dem fremden Mann.


Es fiel ihm ein, daß schön ich sei,

Ich wurde gefreiet, es ist nun vorbei; –

Der Kranz im Haare, mein guter Gesell,

Und nicht vor Tränen die Blicke mehr hell.


Verstehst du mich ganz? schaust grimmig dazu;

Ich bin ja gefaßt, sei ruhig auch du;

Dort seh ich ihn kommen, dem folgen ich muß,

So geb ich denn, Freund, dir den letzten Kuß!«
[304]

Und wie ihn die Lippe des Mädchens berührt,

Da hat man den Zwinger erzittern gespürt;

Und wie er am Gitter den Jüngling erschaut,

Erfaßt Entsetzen die bangende Braut.


Er stellt an die Tür sich des Zwingers zur Wacht,

Er schwinget den Schweif, er brüllet mit Macht;

Sie flehend, gebietend und drohend begehrt

Hinaus; er im Zorn den Ausgang wehrt.


Und draußen erhebt sich verworren Geschrei,

Der Jüngling ruft: »Bringt Waffen herbei;

Ich schieß ihn nieder, ich treff ihn gut!«

Auf brüllt der Gereizte, schäumend vor Wut.


Die Unselige wagt's, sich der Türe zu nahn,

Da fällt er verwandelt die Herrin an;

Die schöne Gestalt, ein gräßlicher Raub,

Liegt blutig, zerrissen, entstellt in dem Staub.


Und wie er vergossen das teure Blut,

Er legt sich zur Leiche mit finsterem Mut,

Er liegt so versunken in Trauer und Schmerz,

Bis tödtlich die Kugel ihn trifft in das Herz.


Quelle:
Adalbert von Chamisso: Sämtliche Werke. Band 1, München [1975], S. 304-305.
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