Juni

[508] Hinter jenem Berge wohnt

Sie, die meine Liebe lohnt.

Sage, Berg, was ist denn das?

Ist mir doch, als wärst du Glas


Und ich wär nicht weit davon;

Denn sie kommt, ich seh es schon,

Traurig, denn ich bin nicht da,

Lächelnd, ja, sie weiß es ja!


Nun stellt sich dazwischen

Ein kühles Tal mit leichten Büschen,

Bächen, Wiesen und dergleichen,

Mühlen und Rändern, den schönsten Zeichen,

Daß da gleich wird eine Fläche kommen,

Weite Felder unbeklommen.

Und so immer, immer heraus,

Bis mir an Garten und Haus!


Aber wie geschicht's?

Freut mich das alles nicht –

Freute mich des Gesichts

Und der zwei Äuglein Glanz,

Freute mich des leichten Gangs,

Und wie ich sie seh

Vom Zopf zur Zeh!


Sie ist fort, ich bin hier,

Ich bin weg, bin bei ihr.


Wandelt sie auf schroffen Hügeln,

Eilet sie das Tal entlang,

Da erklingt es wie mit Flügeln,

Da bewegt sich's wie Gesang.
[508]

Und auf diese Jugendfülle,

Dieser Glieder frohe Pracht

Harret einer in der Stille,

Den sie einzig glücklich macht.


Liebe steht ihr gar zu schön,

Schönres hab ich nie gesehn!

Bricht ihr doch ein Blumenflor

Aus dem Herzen leicht hervor.


Denk ich: Soll es doch so sein!

Das erquickt mir Mark und Bein;

Wähn ich wohl, wenn sie mich liebt,

Daß es noch was Beßres gibt?


Und noch schöner ist die Braut,

Wenn sie sich mir ganz vertraut,

Wenn sie spricht und mir erzählt,

Was sie freut und was sie quält.


Wie's ihr ist und wie's ihr war,

Kenn ich sie doch ganz und gar.

Wer gewänn an Seel und Leib

Solch ein Kind und solch ein Weib!


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960 ff, S. 508-509.
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