Das Spiegelbild

[138] Ich lag im grünen Laubgezelt,

Die Stirn in heißer Hand,

Verbaut von Zweigen Flur und Feld,

An eines Brunnens Rand.


Und als ich so am Rand gelegt

Mein Bild im Quell gewahrt,

Fühlt ich mich wunderbar bewegt,

Vergaß des Wassers Art


Und rief: So hegest du mein Bild,

Du Wesen, still und rein,

Des Herzens Sehnen, ungestillt,

Soll drum dein eigen sein,


An deinem Ufer will ich ruhn,

Will mir ein Laubdach baun,

Matt von des Lebens Mühn und Tun

In deine Wellen schaun.


Da, neben meinem, in dem Quell,

Gewahr ich noch ein Haupt;[138]

Es ist mein Freund, erkenn ich schnell,

Den ich entfernt geglaubt;


Und wie er schalkhaft lächelnd, froh,

Sich über mich gebeugt,

Mit emsger Treue, ebenso

Der Spiegelquell ihn zeigt.


Da war ich schnell vom Traum erwacht,

Doch zürnt ich nicht dem Quell,

Ich zürnte, daß ich nicht bedacht,

Was doch vom Anfang hell:


Des Wassers Art ist eben so,

Zeigt nicht nur ein Gesicht,

Die ganze Welt ist dessen froh,

Und ich auch grolle nicht;


Auch in der Folge will ich gern

An deinem Ufer gehn,

Recht innig froh, auch mich von fern

In deinem Selbst zu sehn;


Doch wohnen hier, mich dir vertraun –

Laß fahren das, mein Sinn!

Wer wird sein Glück auf Wasser baun?

Und also ging ich hin!

Quelle:
Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Band 1, München [1960–1965], S. 138-139.
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