Das Landleben

[54] Flumina amem silvasque inglorius.


Schön ist die Flur, mit Perlen überhangen,

Worin das Bild der Sonne strahlt,

Schön ist das Volk der Blumen, deren Wangen

Die Abendröthe mahlt.


Schön ist das Thal, und die beblümte Weide,

Wo manche Wollenheerde geht,

Sobald der Tag, im purpurrothen Kleide,

Auf den Gebirgen steht.


Schön ist der Hayn, der einen grünen Schleyer

Von Dämmrung um die Hirtin zieht,

Wenn Sirius die Luft beherrscht und Feuer

Aus ofnem Schlunde sprüht.


Schön ist der Bach, der plätschernd durchs Gewimmel

Der Blümchen, das ihm Reize leyht,

Die Wellchen rollt, wenn ihn der Abendhimmel

Mit Purpur überstreut.


Der Garten, den ein Hayn voll Apfelbäume

In seine grünen Arme schlingt,

Wie reizt er nicht! Wie strömen nicht die Reime,

Wenn hier ein Dichter singt!


Ein jedes Kind der bunt bemahlten Flore

Ergießt hier einen Strom von Duft,

Und lacht dem Tag entgegen, den Aurore

Aus Thetis Armen ruft.
[54]

Hier wirbelt, wenn der Abendstern im Westen

Den Saum des Horizonts besteigt,

Die Nachtigall, und klaget auf den Aesten,

Bis Phöbus sie verscheucht.


Wie lieb ich dich, du Flur nach meinem Herzen,

Wo blühende Gesundheit thront,

Wo alles scherzt, wie Sommerlüftgen scherzen,

Wo noch die Tugend wohnt.


Du bist mein Wunsch, o Hayn, voll Rasenbetten,

Durch den ein Bach die Urne gießt,

Nicht Gold, das dich, o Geiz, mit Sklavenketten,

An deinen Kasten schließt.


Nimt mich ein Thal, vom silbernen Geschwätze

Des Bachs durchflüstert, in den Schooß,

Webt der Jasmin um meine Lauben Netze,

Wie glücklich ist mein Looß!


Der Abend sieht mich oft in meiner Laube,

Wenn ich dem Thomson und Virgil,

Der Biene gleich, die süßen Schätze raube,

Ganz Wollust, ganz Gefühl.


Ruft einst der Tod mich weg von meinem Hügel,

Von meiner Flur, ich zittre nicht,

Er kommt als Freund, giebt meiner Seele Flügel,

Giebt ihr ein Kleid von Licht.


Er führet mich in Gegenden voll Wonne,

Wo mit der Flora Hand in Hand

Der Frühling hüpft, und eine mildre Sonne

Die Dunkelheit verbannt.
[55]

Dann seufzt der West, wenn er die Blümchen küßet,

Die meinen Hügel überziehn,

Die Nachtigall, wenn sie den Freund vermißet,

Tönt Trauermelodien.
[56]

Quelle:
Ludwig Christoph Heinrich Hölty: Sämtliche Werke. Band 1, Weimar 1914, S. 54-57.
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