Vater unser

[169] Blitze lauern hinter Wolken,

In den Eichen wühlt der Sturm;

Dicker Wald; ein Nothgeläute

Hallt schon dumpf von manchem Thurm.


Ruhig unter'm breiten Baume,

Seine Pfeife in dem Mund,

Liegt der alte Räuberhauptmann;

Ihm zu Füßen schläft sein Hund.


Und ein Jüngling, bleich, wie Keiner,

Streckt sich ihm zur Seite hin.

»Schleif dein Messer!« spricht der Alte,

Er gehorcht mit schwerem Sinn.


Roth und zischend zwischen Beide

Springt ein Blitz, doch trifft er nicht.

»Vater unser!« ruft der Jüngling,

Doch der Alte flucht und spricht:


»Vater unser lass' ich gelten,

Wenn man auf dem Richtstuhl sitzt,

Wenn die Scheere in den Haaren

Und das Beil im Nacken blitzt.


Jetzt verbiet' ich dir das Beten,

Denn zum Herrn erkorst du mich,

Und ich stell' den Mord noch heute

Dunkel zwischen Gott und dich!


Ja, ich schwör's, du sollst den Ersten,

Den du hier erblicken wirst,

Tödten, daß du nicht noch einmal

Dich von mir zu Gott verirrst.[169]


Du erschrickst? Ich will's nicht schelten,

Mir auch schien das einst gar viel,

Und auch du erlebst die Zeiten,

Wo du's treibst, wie ich, als Spiel.


Mir ist solch ein Muth gekommen,

Seit ich, weil er zornig sprach

Vom Gericht und andern Dingen,

Meinen Vater niederstach.«


Angstgeschüttelt ruft der Jüngling:

»Nimmer, nimmer that'st du das!«

Kräftig schmauchend spricht der Alte:

»Ei, ich that's, und ist's denn was?«


»Wohl, da muß ich's freilich halten,

Was du schwurst, und thu's mit Lust!«

Ruft's, und stößt dem grausen Alten

Fest sein Messer in die Brust.


Jener ballt die Hand, verröchelnd,

Doch er sieht es ohne Graus,

Betet, wie nach einem Opfer,

Laut sein Vaterunser aus.


Quelle:
Friedrich Hebbel: Sämtliche Werke. 1. Abteilung: Werke, Berlin [1911 ff], S. 169-170.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte (Ausgabe letzter Hand)
Gedichte
Werke, 5 Bde., Bd.3, Gedichte, Erzählungen, Schriften
Die schönsten Liebesgedichte (insel taschenbuch)
Gedichte
Gedichte

Buchempfehlung

Knigge, Adolph Freiherr von

Über den Umgang mit Menschen

Über den Umgang mit Menschen

»Wenn die Regeln des Umgangs nicht bloß Vorschriften einer konventionellen Höflichkeit oder gar einer gefährlichen Politik sein sollen, so müssen sie auf die Lehren von den Pflichten gegründet sein, die wir allen Arten von Menschen schuldig sind, und wiederum von ihnen fordern können. – Das heißt: Ein System, dessen Grundpfeiler Moral und Weltklugheit sind, muss dabei zum Grunde liegen.« Adolph Freiherr von Knigge

276 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon