Die Auferweckung des Lazarus

[514] Eine biblische Geschichte zur Musik.


1772.


Maria (über dem Grabe).


Er ist dahin, den Gott mir nahm!

Wo nimmer Keiner wiederkam,

Und was ich Thränen auf sein Grab

Weine, kommen nicht hinab!

Nein!

Er ist dahin! liegt öd' allein

Und droben sein Leichenstein. –

War all mein Freund- und Bruderherz,

Und nun zerrissen ist mein Herz!

Ist bei ihm droben! Zu ihm hin,

Seufzer! findet Ihr ihn?[514]

Nein!

Ist hin, ist fern in Gottes Land,

Ich nieden im Erdentand.


Martha.


Maria, ach, Du murrest

Zu Gott empor! Du schiltst

Des großen Vaters aller Lebenden

Und Todten Rath umsonst!

Kann Dich das Grab

Erhören? kann

Ihn Deine Thräne wecken?


Maria.


Und was ich denk' und red' und thu',

Nichts giebt doch, nichts dem Herzen Ruh.

»Blüht,« sprach ich, »Blumen, um ihn her,

Trost mir!« Sie blühn nicht mehr!

Nein!

Ein Sturm, der kam! der Zweig, er brach,

Sein Blättlein welket nach!


Martha.


Und ist Jesus, unser Freund,

Der Mitleidvolle, nicht auf Erden? Kann

Er ihn, o Schwester, kann er ihn


(Arioso.)


Uns nicht auch wiedergeben?


Maria.


Ach!

Da ich an seinen Worten hing

Und, Engel, in den Himmel ging

Und salbete mit Thränen

Und trocknete mit meinem Haar

Den Fuß des Lieben – ach, wie war

Mir Freude da!


Martha.


Mein Herz

Spricht: »Noch sei Freude da!«

Spricht: »Jesus ist nah!«


(Sie eilt hinweg.)


[515] Maria.


All ihre Sorg' und Müh und Freude

Ist mir nicht mehr,

Bin für die Schattenerde

Kaum Schatte mehr.

In seiner Welt,

Da ist mir Freude

Und Herz und Theil!


Choral.


Wenn Trost und Rettung schwunden ist,

Die uns die Welt erzeiget,

So kommt in tiefster Jammersfrist

Der Schöpfer selbst und neiget

Die Vaterhand dem Kinde zu,

Und schnell am Jammer wohnet Ruh,

Und aus der Nacht bricht Morgen.


Martha.


Maria! unser Freund erscheinet. Auf!

Vertrau und bete!


Aria.


Maria (traurig).


Ach, wärst Du hie gewesen,

Er wäre nicht verschieden,

Mein Bruder, nicht verschieden!


Jesus.


Dein Bruder, er soll auferstehn!


Maria.


Auferstehn am jüngsten, späten Tage!

Und dann doch selig! frei von Plage,

Von Trennung frei! Ich werd' ihn sehn!

Den Bruder sehn!


Jesus.


Ja, Arme! sollst ihn sehn.


Maria (mit Hoffnung).


Ach, wärst Du hier gewesen!


[516] Chor.


Christus ist Auferstehung und Leben;

Wer an ihn glaubt, der Todte soll leben,

Der Lebende sterben nimmermehr!


Choral (alte Kirchenmelodie).


Ich weiß, daß mein Erlöser lebt,

Und mit ihm werd' ich leben,

Aus meinem Grabe schweben,

Wie er einst seinem Grab entschwebt';

Auf neuen Himmelsauen

Den Herren werd' ich schauen,

Mein Ich, mit neuer Hüll' umwebt,

In diesen Augen schauen,

Der für mich starb und für mich lebt;

Drum sterb' ich ohne Grauen.


Martha.


Ach, Herr, da ist die Kluft! Er modert schon

Vier lange Tag' und Nächte,

In seiner Höhl' allein!


Zuschauer.


1.


O sieh,

Ihm thränet selbst sein mildes Auge nun!

Er hat fürwahr ihn sehr geliebet!


2.


Und

Der ihn so sehr geliebt

Und Blinde wieder sehend wähnet, ja,

Konnt' er nicht seinen Freund

Unsterblich wähnen?


1.


Schweig!

Er zürnet! Alle weinen!


(Klagende Accente der Musik sprechen allein und erheben sich allmählig.)


Jesus.


Ich hab' Euch, Weinende, gesagt

Und sage: »Könnt Ihr glauben?

Und schauen Gottes Herrlichkeit?« Hinweg

Den Fels! –

Dir, Vater, Dank,[517]

Daß Du mich hörest! hörest allezeit,

Den Du gesandt! – Komm, Lazarus, empor!


Accompagnement. Zuschauer.


O Gott, ein Weben! Schauer dringt

Durch alle Wesen! Grab,

Das Grab voll Feuerstrahl

Und Leben! Seht,

Der Todte regt sich! kommt empor

Mit Grabesbinden!


Jesus.


Löset ihn!

Und Ihr, erzittert nicht! Maria,

Nimm ihn, den Bruder! lebe

Mit ihm gen Himmel, ein Herz und Sinn!

Ihr sollet hier

Nicht lange weilen! sollet bald

In einem Kuß der Schwester-, Bruderliebe

Zum schönern Leben scheiden!


Maria.


Mein Bruder, wieder mir gegeben.

Nach Grab und Noth zum schönern Leben!


Lazarus.


Maria, wieder mir gegeben

Aus Nacht und Traum zum schönern Leben!


Beide.


O Freund, nimm unsre Thränen an!


Maria.


Dem Moder hatt' ich ihn gegeben;


Lazarus.


O, sieh mich Dir zu Füßen beben!


Maria.


Wir wandeln Hand in Hand durchs Leben –


[518] Lazarus.


Im Todeskuß zum schönern Leben –


Beide.


Gen Himmel hin, die schöne Bahn.

O Freund, nimm unsre Thränen an!


Choräle.


(Alte Kirchenmelodie: Jesus Christus, unser Heiland etc.)


1.


Auferstehung Gottes, Du wirst sein!

Mit Jesu gehn wir ein

Ins Himmelsleben.

O Tod, wo ist Dein Beben?

Wo wird es sein?


Chor.


Der Tod verschlungen in Sieg,

Tod, wo ist Dein Pfeil? Hölle, Dein Sieg?


2.


Auferstehung Gottes, Du wirst sein!

Kein Pilger wallt allein,

Sind Alle Brüder,

Und Brüder Jesu! Glieder

Der Krone sein!


Chor.


In der Auferstehung Gottes die Gerechten werden sein

Wie Engel Gottes im Himmel!


3.


Auferstehung Gottes, Du wirst sein,

Nicht Schicksal mehr wird sein!

Sind überwunden

Der Trennung bange Stunden,

Der Erde Pein!


Chor.


Meine Seele sterbe

Des Todes der Gerechten!

Mein Ende sei

Ihr Ende!


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 514-519.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
Aus Den Ideen Zur Philosophie Der Geschichte Der Menschheit: Nebst Vermischten Gedichten (Hardback) - Common
Aus Den Ideen Zur Philosophie Der Geschichte Der Menschheit: Nebst Vermischten Gedichten (Paperback) - Common
Gedichte (German Edition)

Buchempfehlung

Wieland, Christoph Martin

Musarion. Ein Gedicht in drei Buechern

Musarion. Ein Gedicht in drei Buechern

Nachdem Musarion sich mit ihrem Freund Phanias gestrittet hat, flüchtet sich dieser in sinnenfeindliche Meditation und hängt zwei radikalen philosophischen Lehrern an. Musarion provoziert eine Diskussion zwischen den Philosophen, die in einer Prügelei mündet und Phanias erkennen lässt, dass die beiden »nicht ganz so weise als ihr System sind.«

52 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon