Geschichte und Dichtkunst

[146] Ein Musengespräch in der vaticanischen Rotonda.


Im schönen Musentempel, wo ich einst

Anschauend in Begeistrung mich verlor,

»Jungfräuliche Gestalten,« sprach ich, »lebtet,

Wo lebtet Ihr? der reinen Menschheit Bilder,

Woher nahm Euch der hohe Genius?«

Da füllte des entzückten Phöbus mich,

Des schönen Jünglings, Päan, und das Chor

Der Musen mit Gesang und Flötenton,

Psalterion und Leyer stimmten ein;

Kalliope mit aufgeschlagnem Buch,

Euterp' und Erato, Terpsichore,

Thalia; nur die Muse der Geschichte

Saß schweigend da mit weggewandtem Blick.

Ich nahete mich ihr, und Geist zu Geist,

Verstand sie mich, antwortete mir sanft:[146]

»Du wunderst, Fremdling, Dich, daß ich im Chor

Der lauten Schwestern schweig'? Ich horche zu

Und merk' auf unsres hohen Führers Anklang

Und lern' an Jeder lebendem Gesang.

Kalliope stellt meinem Ohr vor Augen,

Was einst geschah. Umfang und Ziel und Zweck,

Das Maaß der Gegenwart und Leidenschaft

Lern' ich aus ihrer und der Schwestern Weise.

Doch steht auch schweigend dort Melpomene,

Die ihren Fels hinansteigt; siehe dort

Urania mit ihrem Stabe, mit

Erhobnem Finger Polyhymnia;

Sie lehren mich die höhre Harmonie

Der Weltbegebenheiten. Horch!« Ich hörte

Welch einen andern als der Leyer Klang,

Als Flöte, Cither und Psalterion!

»O Klio!« sprach ich. »Nenne mich nicht Klio,

Die Preisende; denn meine Tuba gab

Ich längst der Fama, die, die Wangen voll

Von Athem, Lob verkündet. Meine Mutter

War Mneme; ihre liebste Schwester hieß

Melete, und Aoide war die jüngste;

Ihr aller Mutter war Mnemosyne.

Die Schwestern, die Aoidens Abkunft sind,

So sagt der Götterspruch, sie werden einst

Im Ansehn sinken; denn Mnemosyne

Mit ihren Töchtern, Mneme, meine Mutter,

Melete und Aoide, die drei höchsten

Und hehresten der Musen, kehren einst

Dem bessern menschlichen Geschlecht zurück.

Und sie erwarten meine nähern Schwestern,

Die schweigenden: hier Polyhymnia,

Die mir der alten Gotteslehre Weisheit,

Urania, die mir der Welten Bau,

Der Zeiten Ordnung, dort Melpomene,

Die Heldenseelen mir als Heldin zeigt.

Wir hoffen auf die Kommenden; und ich,[147]

Dies ist mein Amt, blick' in die Gegenwart

Und horch' aus dem Vergangenen die Zukunft.

Denkwürdiges nur schreib' ich; Spiel und Tand,

Thaliens Masken gehen mir vorüber.

Sei, Fremdling, unser Freund und lern auch Du

Der Weltbegebenheiten Melodie

Erst hören, dann verstehn und lieben!« Sie

Saß lebend vor mir; veilchenblau ihr Kleid,

Dunkelroth ihr Gewand mit blauem Saum,

Ihr Ohr- und Armschmuck helles, reines Gold,

So saß vor mir die Königin und schwieg.

Ihr Horchen aus der Fern', ihr stiller Blick

Tief in die Zukunft, was sie zu mir sprach

Und vorverkündet', bleibt im Herzen mir.

Nicht Klio mit der Tuba ehr' ich fürder;

Die heil'gen Töchter der Mnemosyne,

Melete, Mneme und Aoide, sie

Sind meine Musen. Wenn die Menschheit einst

Vom Traum erwacht, und jener schöne Jüngling

Nicht müssig mehr Eidechsen spießet, wenn

Er, Musenführer, Hirt, der Menschheit Arzt

Und ihr Befreier, seinen Päan singt:

Sind der gesammten Menschheit Musen sie.


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 146-148.
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