Georg Herwegh

Eine demokratische Verirrung

Es ist gefährlich, unsern jungen Dichtern zuzurufen, sie sollen Fragen der Zeit, Probleme des Jahrhunderts zu ihrem Vorwurfe machen, sie sollen Gegenstände in den Bereich der Poesie ziehen, welche im Augenblicke das Interesse der Menschheit am meisten in Anspruch nehmen und am meisten in Anspruch zu nehmen auch verdienen. Man ist einem doppelten Mißverständnisse ausgesetzt: erstens gibt es manche Dichter, die mit der bloßen Wahl eines solchen interessanten Stoffes alles getan zu haben glauben und genialisierend einer fleißigen entsprechenden[66] Behandlung sich überheben. Das Was, meinen sie, müsse bei ihnen das Wie notwendig entschuldigen. Das Was entschuldigt aber nie eine verfehlte Form; denn die herrliche Idee wird den Sinn des Volkes verschlossen finden, wenn sie nicht fleischgeworden, als tadellose Gestalt, vor die Augen desselben hintreten kann und sein Herz durch die Macht der Schönheit erobert. Und wenn euere Gedanken zehnmal sind wie unsere Gedanken, wenn euere Gefühle sind, wie unsere Gefühle, wenn euere Leiden, wenn euere Freuden unsere Leiden, unsere Freuden – bis vis superbæ formæ werden wir euch nicht erlassen, wir werden euerem Herzen viel, aber nie so viel verzeihen, daß ihr ungestraft einer so trostlosen Anarchie der Form, wie sie bei manchen Schriftstellern täglich mehr einzureißen droht, euch hingeben dürft. Republikaner oder Anhänger der konstitutionellen Monarchie – die ästhetischen Gesetze müssen beide gleich sehr achten. Die Athenienser haben einst ihren größten Rednern nicht den leisesten Mißton verziehen. Laßt, was die Form angeht, euere Himmelstürmerei und entsagt jener genialischen Gebärde; die kleinste Blume hat als organisches Gebilde für mich weit mehr Wert, als das schönste Gewitter.

Das zweite Mißverständnis hat man zu befürchten, wenn man Dichter an soziale Fragen, an Fragen des Jahrhunderts verweist.

Man hat viel Mißbrauch mit solchen Worten getrieben und bedeutende Talente dadurch irre geführt. Bücher, in denen kein Funke von Poesie, keine Spur künstlerischer Anlage zu erblicken war, die aber im Sinne dieser oder jener Tendenz geschrieben wurden, hat man hoch gepriesen und ihnen den unbedingten Vorzug erteilt vor Schöpfungen, die mit klarem dichterischem Bewußtsein konzipiert und ausgeführt waren, denen man Großartigkeit und Wahrheit der Idee nicht absprechen konnte, die jedoch die zufällige Form derselben in einem bestimmten Zeitraum, ihre unwesentlichen Anhängsel außer Beachtung gelassen und ihre Gestalten nur um den unveränderlichen Kern herum Kristalligkeit hatten.

Was ist denn eine Frage des Jahrhunderts, wenn man fragen darf? Wird eine ewige Frage nicht stets auch die Frage der Zeit sein? Das Verhältnis des einzelnen zum Geschlechte und zum Allgemeinen, zu Gott, wie man es nennen mag, sein Kampf gegen das Schicksal, gegen die Notwendigkeit, das Recht des Sklaven gegen den Freien, des Armen gegen den Reichen, des Menschen gegen den Aristokraten, der Republik gegen die Monarchie – seit man denkt und nicht denkt, sind dies die[67] Grundfragen der Welt gewesen, von denen alle übrigen nur Ausläufer sind, und zu denen sie, wenn sie sich als unabweisbar behaupten sollen, fortwährend in lebendiger Beziehung gehalten werden müssen. Diese Fragen sind auch die Fragen unserer Zeit, unseres Jahrhunderts und konzentrieren sich vielleicht in der Hauptidee, der wir alle huldigen, in der Geltendmachung der Subjektivität, in der Freiheit, im Stolze des Menschen, in seinem Selbstgefühl, nicht, wie früher, bloß der Welt, sondern dem Himmel selbst gegenüber.

Der Ausdruck, die Gestaltung dieser Idee ist mit jedem Tage, ja beinahe mit jeder Stunde, eine andere, bald blühendere, bald dürftigere. Bald zerschlägt der Weltgeist heute die Form, die er gestern geschaffen, bald gewährt er ihr in seiner Langmut eine längere Zeit der Entwicklung. Die Poesie, die innere Geschichte der Menschheit, hat, wenn sie sich wirklich als Supplement der äußeren, als Supplement der Weltgeschichte geltend machen will, bei der Wahl ihrer Vorwürfe genau zu überlegen, was im Laufe der Zeit an und für sich Wert hat, was hemmend, was fördernd, was bloß Übergangsstufe ist. Darnach bestimmt sich dann ihre Aufgabe, hier hat sie zu verherrlichen, zu preisen, dort zu trösten und zu versöhnen, an einem dritten Orte zu protestieren, zu kämpfen, zu verdammen. Nie aber darf sie sich den Regungen, dem Ringen der Zeit entziehen. Das Herz ist auch ein Faktor der Weltgeschichte, und die Taten der Zukunft ruhen oft Jahrhunderte vorher schon im stillen Busen des Menschen. Hier wird die Poesie Prophetin, wie die Priesterin zu Delphi; hier tritt sie eben darum in ihren schönsten Wirkungskreis; hier ist sie Vorläuferin der Tat.

Der Dichter darf sich den Fragen der Zeit nicht entziehen; wir dürfen aber deswegen nicht jeden tadeln, der seine poetischen Gestalten nicht mit den bunten Laken der Gegenwart behängt, sofern er nur die ewige eine Wahrheit im Auge behält und sie in genialen Formen wiederzugeben versteht.

Was wollten wir Tendenzsüchtigen sonst z.B. mit einem Shakespeare anfangen, dessen dramatische Dichtungen unvergängliche Lehren abwerfen für alle Völker und alle Zeiten, also auch für die unsrige, ohne gerade den speziellen Beigeschmack der letzteren an sich zu tragen? Wenn wir dem Begriffe, »Fragen des Jahrhunderts«, so enge Grenzen anweisen, welches Recht könnten wir Julius Mosen mit seinem Cola Rienzi, dem letzten Tribunen, widerfahren lassen? Müßte sich unser Tadel nicht auch auf diese köstliche Apologie des Republikanismus erstrecken, weil Julius Mosen seinen Helden aus einem entlegenen[68] Jahrhundert, und nicht unter den Republikanern von 92 oder den Republikanern der Julirevolution in der Straße Saint Honoré gewählt hat? Welchen falschen Maßstab würden wir an die Produktionen der Lyrik anlegen, deren größtes Verdienst doch ist, die Individualität in schrankenlosester Freiheit gewähren zu lassen und alle Schmerzen und Hoffnungen einer hochstrebenden Seele, wenn sie sich auch in Widerspruch setzt mit dem sogenannten Geiste der Zeit, ohne Scheu der Öffentlichkeit zu übergeben und dem Publikum einen Blick in die Tiefe von Herzen zu gestatten, deren Sympathien im Augenblicke vielleicht noch ganz andere, als die der Mehrzahl der Nation sind?

Es werden Geister kommen, es sind schon Geister da, die ein Echo bilden für alle Laute der Freude und der Pein, welche aus der Brust des Volkes erklingen; wir wollen sie doppelt willkommen heißen, wenn sie imstande sind, ihren Dichtungen die glühende Färbung des Moments zu geben, ohne darum der Schönheit irgend Eintrag zu tun. Aber über letzterer müssen wir wachen, eifersüchtig wachen! –

Wenn in Frankreich und Deutschland die Journale der Aristokratie sich überbieten, ihre Lüge und Falschheit in der blendendsten Form an den Mann zu bringen, sollte das nicht eine dringende Mahnung für uns sein, diese verkehrte Richtung nicht nur an Tüchtigkeit der Gesinnung, an Tiefe des Gedankens, sondern auch an Schönheit seiner Gestaltung zu überflügeln? Wir haben es schon oft ausgesprochen, auch die Poesie soll eine Waffe für unsere Sache sein, – wir werden ihr daher, wenn sie sich versündigt an der Breite der Gottheit, wie Goethe die schöne Form nennt, um der Tiefe willen wenig oder gar nichts nachsehen. Ist doch die Form zuweilen eben der Prüfstein des Gedankens!

Zu diesen Betrachtungen veranlaßt mich ein Buch, das bei Hammerich in Altona erschienen ist. Der sonderbare Titel lautet:


»Vetter Michel, ein Kapriccio von Friedrich Clemens

(schreibt auch unter dem Namen Clemens Gerke)«


Der Verfasser ist im buchstäblichen Sinne, was man in Deutschland ein verdorbenes Genie heißt, und seine Lebensgeschichte, wie sie in dem Almanach Delphin auf 1838, in den Hamburger Briefen, mitgeteilt wird, beweist, wie schlimm es eigentlich um einen Autodidakten steht, der jeder formellen Grundlage ermangelt. Es läßt sich nicht leugnen, Talent, viel Talent, Witz, viel Witz, Originalität, viel Originalität ist hier[69] vorhanden, ein freier, unbändiger, skeptischer Geist, ein munterer, leidenschaftlicher, oft auch wieder zu legerer Stil, voll grammatikalischer Unrichtigkeiten, ein aufmerksamer Sinn für die leisesten Regungen der Gegenwart, für alle Zweige der Wissenschaft, verwandtschaftliche Züge mit Jean Paul, und doch nicht der entfernteste Vergleich mit ihm; – alles ineinander verschwimmend, ohne Plan, ohne Ordnung, ohne würdige Haltung, eine Mißgeburt, in der die wichtigsten Dinge erörtert werden, keck und unerschrocken, mit glühendem Enthusiasmus für Größe und Freiheit, ohne den geringsten Dank von unserer Seite zu verdienen; ein Buch, das uns recht handgreiflich zeigt, welcher Sprung es vom besten Willen bis zur schöpferischen Tat ist.

Ist es nicht verführerisch, wenn wir in der Vorrede lesen:

»Wer im Reiche der Geister schaffen will, der soll der Zeit ihre Wünsche abfragen; – was ihre Sonnenhöhe nicht begünstigt, das wird nicht gedeihen, und ob der Geist alle seine Kammern zu Treibhäusern machte.«

Und welche Enttäuschung, wenn wir die Ohnmacht des Verfassers in der Gestaltung seiner Ideen gewahr werden! Da ist keine Entwicklung, keine Auflösung, das Buch könnte mit dem ersten Kapitel so gut schließen, wie mit dem letzten.

Vetter Michel ist ein ergiebiger Stoff für den komischen Roman; aus diesem Typus deutscher Pedanterie, deutscher Bequemlichkeit, der seinen Krug Bier trinkt und Welt Welt sein läßt, der aus purem Komfort nicht denken mag, und in dessen Augen jeder Angriff auf veraltete Institutionen ein unverantwortliches Verbrechen ist, dessen Name heimisch ist in den Höhen und Tiefen der menschlichen Gesellschaft, denn es gibt gelehrte und ungelehrte, reiche und arme, junge und alte Michel, aus diesem Typus aller Lächerlichkeit könnte man eine Figur bilden, die unter geschickten Händen den Don Quixote des Cervantes weit hinter sich ließe. Aber er müßte dargestellt werden mehr durch Taten, als durch Redensarten, mehr wie der Ritter von der Mancha im Kampfe gegen Windmühlen, als im Dialoge, den Herr Ludwig Tieck zu ihrem Verderben so im Übermaß in die deutsche Novellistik eingeführt hat. Dabei sollte Herr Clemens Gerke viel weniger von Sachen reden, von denen er, wenn er ehrlich sein will, seine Unkenntnis sich selbst gestehen muß. – Man möge aus diesen Bemerkungen abnehmen, wie wir nicht nur Wächter der Wahrheit, sondern auch Wächter der Schönheit sein wollen, wie die ästhetische Kombination uns keineswegs Nebensache ist; wir fühlen den ganzen Jammer in seinen Tiefen,[70] daß wir zurzeit noch solchen Mangel haben an Köpfen, die unsere Ideen in schönen Formen an das Volk, das für dieselben so empfänglich ist, vermitteln. Wir drücken jedem künstlerischen Talente die Hand, das im Dienste der Wahrheit schreibt, malt oder dichtet.[71]

Quelle:
Herweghs Werke in drei Teilen. Band 2, Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart [1909], S. 66-72.
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