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[93] Ich fahre mit den Winden,

Die fächelnd vor dem Sommer wehn;

Wo Klang und Duft sich finden,

Kann man mich immer sehn!


Des Lebens süßes Schmeicheln

Gewann mich neu in seinen Bund,

Und nimmer mag ich heucheln:

Ich fühle mich gesund.


Durch fremde Städt und Auen

Trag ich mein Herz voll Sang und Klang;

Die Blumen und die Frauen

Blühn mir den Weg entlang.


Die Blumen brech ich gerne,

Sooft mir's eine angetan;

Doch sicher aus der Ferne

Schau ich die Frauen an.


Ich lieb sie insgemeine

Wie einen vollen Rosenkranz,

's wär schade, wenn ich eine

Entzöge solchem Glanz!


Doch fallen hin und wieder

Im Wind den Rosen Blätter ab,

Die sinken in mich nieder

Auf ein verborgen Grab.


Da liegt von welkem Schimmer

Und Blütenschutt ein dichter Flor,

Draus ragt das Grabmal immer

Und lieblicher hervor!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 93-94.
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