An das Herz

[154] Willst du nicht dich schließen,

Herz! du offnes Haus,

Worin Freund' und Feinde

Stürmen ein und aus?
[154]

Schau, wie sie verletzen

Dir das Hausrecht stets!

Fühllos auf und nieder,

Polternd, lärmend geht's!


Keiner putzt die Schuhe,

Keiner sieht sich um!

Staubig brechen alle

Dir ins Heiligtum;


Trinken aus den goldnen

Kelchen des Altars,

Stehlen Müh und Segen

Dir des ganzen Jahrs;


Werfen die Penaten

Wild vom Herde dir,

Pflanzen drauf mit Toben

Ihr zerfetzt Panier;


Und wenn zu verwüsten

Sie nichts finden mehr,

Lassen sie im Scheiden

Dich, mein Herz, so leer!


Nein! und wenn nun alles

Still und tot in dir:

Oh, noch halt dich offen,

Offen für und für!


Laß die Sonne scheinen

Heiß in dich herein,

Stürme dich durchfahren

Und den Wetterschein!
[155]

Wenn durch deine Hallen

So die Windsbraut zieht,

Laß aus deinen Glocken

Schallen Lied um Lied!


Denn noch kann's geschehen,

Daß auf irrer Flucht

Eine treue Seele

Bei dir Obdach sucht.


Dann ist's Zeit, zu schließen

Endlich Tür und Tor,

Dann blüh dir im Innern

Neu der Lenz hervor!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 154-156.
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