Herbstnacht

[51] Als ich, ein Kind, am Strome ging,

Wie ich da fest am Glauben hing,

Wenn ich den Wellen Blumen gab,

So zögen sie zum Meer hinab.


Nun hält die schwarz verhüllte Nacht

Erschauernd auf den Wäldern Wacht,

Weil bald der Winter, kalt und still,

Doch tödlich mit ihr ringen will.


Schon rauscht und wogt das weite Land,

Geschüttelt von des Sturmes Hand,

Es braust von Wald zu Wald hinauf,

Entlang des Flusses wildem Lauf.
[51]

Da schwimmt es auf den Wassern her;

Wie ein ertrunknes Völkerheer

Schwimmt Leich an Leiche: Blatt an Blatt,

Was schon der Streit verschlungen hat.


Das ist das tote Sommergrün,

Das zieht zum fernen Weltmeer hin –

Ade, ade, du zarte Schar,

Die meines Herzens Freude war!


Sing's in die Niedrung, dunkle Flut:

Hier oben glimmt ein heißes Blut,

Wie Heidefeuer einsam glüht,

An dem die Welt vorüberzieht!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 51-52.
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