Der alte Bettler

[348] Nun legst du, alte wettermüde Föhre,

Den allerletzten Jahresring dir an,

Da ich im Walde schon rumoren höre

Mit seiner Axt den grauen Zimmermann.

Er wird sowenig deinen Kopf begnaden,

Als jemand über mein Verschwinden klagt;[348]

Dem armen Schelm und einem alten Schaden

Nur wird des Alters Ehrenzoll versagt!


Sei's immerhin! ich liebe drum nicht minder

Dies alte Land, mein gutes Vaterland,

Und segne seine lebensfrohen Kinder

Mit der verworfnen toten Bettlerhand!

Ich segne euch, o Strom, Gebirg und Auen,

Die ihr im Lichte heiter vor mir schwimmt!

Ein Reichtum ist dies selig klare Schauen,

Den meinem Aug nicht Vogt noch Richter nimmt!


Als meine Brüder einst vor vierzig Jahren

Das schiefe, morsche Vaterhaus verkauft,

Um nach der fernen Neuen Welt zu fahren,

Wo man sich mit der alten Erde rauft,

Da bin ich ganz allein zurückgeblieben,

Bald war ich um mein kleines Erb geprellt;

Weiß nicht, wie weit sie drüben es getrieben:

Ich wurd ein Hauptmann in der Bettler Welt!


Denn weder Not noch Mühsal konnten scheiden

Mich von den Marken meines Vaterlands –

Wer will mich zwingen, seinen Schoß zu meiden,

Zu missen seiner Ströme blauen Glanz?

Hier will ich wandeln, wo ich bin geboren,

Und sei's auch in zerrißnen Bettlerschuhn!

Ging drob die Bürgerehre mir verloren,

Ich will und muß bei meinen Vätern ruhn!


Dich sollt ich fliehen, trautes Netz der Wege,

Daran auch ich mit fleiß'gen Füßen spann,

Und dich, Gebirg, wo ich des Abgrunds Stege

Fast mit verbundnem Aug beschreiten kann?[349]

Wo ich den Fuchs und seinen Vater kenne

Und jeden Stamm im dunklen Forst gezählt

Und jede Trift bei ihrem Namen nenne –

Den Boden, wo mir nie ein Tritt gefehlt?


O gute Scholle meiner Heimaterde,

Wie kriech ich gern in deinen warmen Schoß!

Mir ahnet schon, wie sanft ich ruhen werde,

Vom Kaun des Brots und allem Irrsal los!

Wie will ich meine müden Beine strecken,

Wegwerfend meines Elends dürren Stab,

Wie langhin mich von West nach Osten recken,

Als läg ich stolz in eines Königs Grab!


Doch spinnt sich weiter meiner Seele Leben,

So möge sie im leichten Nebelkleid,

So leicht wie Luft, dies laute Volk umschweben,

Noch immer treu in Freude, Zorn und Leid!

Möcht meine Seligkeit darin bestehen,

Einst seines letzten Bettlers Geist zu sein,

Zufrieden, still und müßig umzugehen

In seines Glückes hellem Sonnenschein!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 348-350.
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