98.
Hymne

[231] O du mit keinem Wort zu nennen,

Den alle haben und verkennen,

Den, selbst wer ihn mit Zwang verehrt,

Auch vor ihm fliehend, noch begehrt.

Selbst der, den du im sanften Bilde

Des Weibs entzükst, wie jener Wilde

Der gegen Todeswälle steigt

Und dir, ja dir entgegen schweigt!

O du wie anders als Schimäre

Des Heuchlerdursts nach Pöbel-Ehre

Dich, nein: nur sich der blöden Welt

In deinem Kleide dargestellt,

Und dennoch selbst in diesem Bilde

Ihn nicht verlierst, den Stral von Milde

Der im verzerrtsten Angesicht

Noch Reste deiner Gottheit spricht.

Alldulder! – dieser Ahndung Glük –

Sonst alles – nimm es nie zurük!

Laß mich es hegen, wie zuvor

Als höchsten Reiz, den ich erkohr,

An dem ich mich im stillen sonnte,

Eh ich es wagen, sprechen konnte,

Und dadurch mein Gefühl verlor.

O du, dem alles, was wir geben

Und geben können, Dank nur ist,

Und doch der Ohnmacht im Bestreben

Schon gleich mit Wohlthun nahe bist!

Wer dankt dir, Gottheit – wenn wir brennen

Daß wir dich Vater nennen können,[232]

Und der umfangne, der dich singt

Nicht bang in Scheiterhaufen springt.

Wer hält uns, solchen Werth zu fühlen,

Wer zieht der Nerven Saiten nur

So hoch, als zitternd die Natur

Sie ausgesponnen, dich zu spielen! –

Wer dankt dir, daß du Schwachheit trägest

Und Stärke bei der Ohnmacht liegt,

Daß du durch Menschen Stürme legest,

Mit denen unsre Seele fliegt,

Wenn Eigendünkel sie betriegt! –

Und doch dieß Herz, wenn du es schlägest,

Ein Zug von Stolz im Schmerz vergnügt,

Mit dem es sich zu dir erhebet,

Bis alle die Verwirrung fliehet,

Und von der Höh' auf der er bebt

Er eine Welt voll Segen siehet,

Wo Demuth den Genuß belebt.


O du, was ist, erschwäng, erhübe

Sie gleich bis an den Himmel sich,

Was ist des frömmsten Menschen Liebe

Allsiegend Feuer! gegen dich?

Giebts eine, die so wenig drükt

So unabsichtlich groß entzükt,

So vorbereitend vorbereitet,

Nach jeder Fähigkeit beglükt

Und wie die Sonne ausgebreitet

Zu höherm Glükschwung jede leitet?


Auch auf dem Hügel wo ich stehe

Standst du, und Gott auf welcher Höhe

Littst du, für das was ich von dir

Erhielt – littst du den Tod dafür

Den Tod und welchen! – welch ein Leben[233]

Dahinzuschleudern – welch ein Leben,

Das Plan zu diesem Tode war,

Ein langsam überlegtes Streben

Nach unerbittlicher Gefahr!

Bewußtsein – halte Gott! den Schwachen

Nun Schritt vor Schritt den Weg zu machen

Von dem kein Wesen wiederkam.

Ach wo dich aus dem Todesnachen

Verzweiflung in die Arme nahm.

Sie that sich auf, sie eine Hölle,

O liebenswürdger unter dir!

Und Engel bebten an der Schwelle,

Ach Engel bebten zu vergehen,

Dich auf dem Weg dahin zu sehen,

Und du, ein Mensch, du giengst ihn ab –

Es schloß sich zu das geistge Grab;

Und – Gott! mein Gott! nun über dir

Und – Herr mein Gott – an meiner Stelle –

Wer bin ich, der befreit vom Bann

Das denken und noch leben kann!

Quelle:
Jakob Michael Reinhold Lenz: Gedichte, Berlin 1891, S. 231-234.
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