Die wunderbare Rede

[135] Auf der Appierstraße zieht ein Heer

Schnellen Schrittes, weit umwölkt von Staub.

Weiß am Horizont das Häusermeer –

»Rom ist morgen euer!« zeigt Sever.

»Flieget, Adler! Stoßt auf euren Raub!«


Morgen? Rom sorgt sich um morgen nicht.

»Die Gladiatoren spielen heut!«

Weiber schmücken sich. Orestes ficht!

Manch unheimlich brennend Augenlicht

Blitzt im Spiegel, den die Sklavin beut.
[135]

Sänften hasten zum Theater schon,

Von Gewitterwolken überjagt,

Schwüle Blicke, die wie Fackeln lohn!

Ungeduldig finstre Brauen drohn:

»Eilet, Sklaven!« Spiel ist angesagt!


Über Dach und Zinne ragt empor

Himmelhoch ein riesenstarker Bau,

Der ein Volk empfängt durch manches Tor.

Hinter seinem Mauerkranz hervor

Steigt es schwarz und schwärzer auf im Blau.


Drinnen drängen sie sich Sitz an Sitz,

Jede Stufe strotzt und wogt und schwillt.

Auf der Bühne züngeln hell und spitz

Kurze Schwerter. Schimmernd flirrt ein Blitz

Und ein erster Sprudel Blutes quillt.


Starren Blickes, blaß vor Leidenschaft,

Lauert vorgeneigt die Römerin

Auf die Sterbewunde – eine gafft

Lüstern, eine sinnt dämonenhaft,

Eine lauscht mit hartem Mördersinn.


An der rasch gedrehten Klingen Spiel

Haften Seelen gierig, ohne Zahl –

Traf der Stoß? Er saß. Ein Fechter fiel,

Wälzt sich um im Sand und ist am Ziel

Nach der kurz empfundnen Sterbequal.


Mark und Herz erschütternd gellt ein Schrei!

Dort auf dem Balkon ein Weib im Traum:

Um die Schultern wehn die Haare frei

Und als ob sie die Sibylle sei,

Ruft sie ehern durch den vollen Raum:


»Wehe morgen! Fechter, du bist tot!

Gute Fahrt! Dir tun sie nichts zuleid!

Morgen wehe! Horch! Die Tuba droht!

Eine weite Flamme weht und loht!

Wehe! Sie zerreißen mir das Kleid!«
[136]

In das Morgen blickt sie voller Graun,

Schaudernd wie vor Blutes tiefem Strom,

Denn ihr Auge kann das Künft'ge schaun –

Es ist keine von den ird'schen Fraun!

Es ist Rom! Es ist die Göttin Rom!


Vor dem Volk auf hoher Stufe ragt

Rom die Herrin in versteintem Schmerz,

Rom, vor welcher einst die Welt gezagt,

Jetzt die wunde, die geschlagne Magd!

Leid und Mitleid füllen jedes Herz.


Durch die Menge geht ein Flüstern leis,

Eine Rede schwirrt und irrt und rauscht,

Flutet höher, höher stufenweis,

Braust wie Meeresbrandung, füllt den Kreis,

Jeder spricht sie mit und jeder lauscht:


»Schande! Brandmal! Striemen! Sklavenjoch!

Wehe! Sie zerreißen dir das Kleid!

Ach wie lange noch, wie lange noch?

Stürbest, Göttin Roma, stürbst du doch!

Aber du bist voll Unsterblichkeit!«


Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 135-137.
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