Der Talisman

[97] Der Santon Hadem saß an der Kaskade

Vor Bagdad. Plötzlich drang ein Mädchen sich zu ihm,

Selbst Venus kam nie schöner aus dem Bade:

O hilf mir, heilger Mann! rief sie mit Ungestüm,

Erhalte mir mein höchstes Gut, die Tugend.

Ein Bösewicht, der junge Muselim,

Stellt meiner unerfahrnen Jugend

So hitzig nach, daß ich kaum widerstehen kann:

Was soll ich thun? – Nach kurzem Schweigen

Versetzt der Mönch: Hier ist ein Talisman;

Der wird ihm dein Gesicht so häßlich zeigen,

Daß er, so lang der Ring an deinem Finger steckt,

Sich, wie durch ein Phantom geschreckt,

Von dir entfernen wird. Die holde Schöne

Empfängt den Schmuck aus seiner Hand

Und danket ihm mit einer frohen Thräne.

Es war der dritte Tag, als er am Tigerstrand

An ihres Buhlen Arm, in einem Busch sie fand:

Was macht der Talisman, bedrängte Nuredine?

Rief er ihr lächelnd zu. Das arme Kind

Verstummt, und mit verwirrter Miene

Zog sie die Hand zurück. Der Santon war nicht blind:[98]

Ich hätte dich, sprach er, so hart nicht prüfen sollen;

Wo wird ein Mädchen in der Welt,

Auch selbst, wenn es dadurch der Unschuld Kranz erhält,

Dem Jüngling häßlich scheinen wollen?

Quelle:
Gottlieb Konrad Pfeffel: Poetische Versuche, Erster bis Dritter Theil, Band 3, Tübingen 1802, S. 97-99.
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