Die Lügen

[142] Beate reicht die welke Hand

Noch einem hübschen jungen Fant.

Was hat sie wohl dazu bewogen?

Sie spricht: des Menschen Dürftigkeit

Und christliche Gelassenheit.

Das heißt gelogen.


Als Raps Besitz vom Erbe nahm,

Das er vom Oheim Rips bekam,

Rief er in lauten Monologen:

Wie gern verzög ich auf sein Geld,

Wär er nur noch auf dieser Welt!

Das heißt gelogen.


Sejan, der bauchige Magnat,

Der, einem Vampyr gleich, den Staat

Bis auf das Herzblut ausgesogen,

Rühmt, daß er für sein Vaterland

Gut und Gesundheit aufgewandt.

Das heißt gelogen.


Man hat dem Junker Leonhard

Heut seinen alten Knecht verscharrt,[143]

Dem er die Bissen dargewogen.

Er sagt, daß er den armen Wicht

Zu todt gefüttert, wie man spricht.

Das heißt gelogen.


Um Clelien hält Lindor an;

Er, der wie ein verliebter Hahn

Bisher von Weib zu Weib geflogen.

Er schwört beym Hymen, ihr allein

Bis in das Grab getreu zu seyn.

Das heißt gelogen.


Rufill, ein schwangerer Poet,

Gebahr ein Buch, in diesem steht

Wohl dreymal auf dem ersten Bogen:

Daß ihn geneigter Kenner Rath

Zu diesem Druck verleitet hat.

Das heißt gelogen.


Als Phryne jüngst im Spiegelsaal

Für ihren alten Ehgemahl

Die Trauerkleider angezogen,

Rief sie mit einem Thränenbach:

O folgt ich doch nur bald ihm nach!

Das heißt gelogen.
[144]

Der Mann der jungen Lesbia,

Dem das verwünschte Podagra

Die morschen Knochen krumm gebogen,

Wankt keuchend um sein Weib herum

Und nennet sie sein Eigenthum.

Das heißt gelogen.


Blandin gelobt mir seine Gunst;

Er, dessen glatte Redekunst

Schon oft den feinsten Schalk betrogen,

Versichert, als ein Biedermann,

Mich daß er gar nicht lügen kann.

Das heißt gelogen.


Faustin erhält ein Pastorat.

Gebückt erscheint der Candidat

Im Zirkel grauer Theologen.

Er glaubt kein Evangelium

Und schwört auf Luthers Symbolum.

Das heißt gelogen.

Quelle:
Gottlieb Konrad Pfeffel: Poetische Versuche, Erster bis Dritter Theil, Band 1, Tübingen 1802, S. 142-145.
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