Adonis

[351] Als einst im fernen stillen Thale

Cythere Myrrhas Sohn erblickt,

Da ward' ihr Herz zum erstenmale

Durch sterbliche Gestalt entzückt.

Nachläßig kam sie hergegangen,

Und sprach zu ihm mit süßem Ton.

Ein wunderliebliches Verlangen

Ergriff den schüchternen Adon.


Göttinnen faßen kühne Schlüße,

Wenn Lieb' in ihrem Innern glüht;

Sie sorgen, daß die Zeit der Küsse

Bei Zierereien nicht entflieht.

Sie schwebt, sobald mit mildem Fluge

Der Tag in Thetis' Schooß entflohn,

Herab mit ihrem Taubenzuge,

Und raubt den schlummernden Adon.


Die Tauben flattern durch die Lüfte

Und langen an in Paphos' Hain.

Hier laden frische Balsamdüfte

Sie unter Rosenlauben ein.

Kaum scheucht der Glanz der Morgenstunde

Den Gott des Schlafs, bekränzt mit Mohn,

So weckt ein Kuß von Venus Munde

Den frohbezauberten Adon.
[352]

Sie liegen Arm um Arm geschlungen

Und aufgelös't in Liebesglut.

Sie stärkt durch matte Weigerungen

Des unerfahrnen Lieblings Muth.

Der Gürtel ist in's Gras gefallen,

Ihr Brautbett ist ein Rasenthron;

Den Brautchor singen Nachtigallen

Dem hochbeseligten Adon.


Bei'm Hauch des West's auf Rosen liegen,

Und an der wollustheißen Brust

Der schönsten Göttin sich zu wiegen,

Ist mehr als Elysäer-Lust.

Und dich kann diese Lust ermüden?

Nach wenig Tagen fliehst du schon

Die Lieb' und ihren weichen Frieden?

Ach! unbesonnener Adon!


Mag Venus noch so zärtlich hadern,

Daß sie ihr Schäfer treulos flieht;

Umsonst! so lang' in seinen Adern

Die ungestüme Streitlust glüht.

Er folgt der Spur der Wölf' und Tiger,

Gewaffnet wie Latonens Sohn,

Und wer erkennt im raschen Krieger

Noch jenen lächelnden Adon?


Ihr Nymphen! seid ihm nah mit Schutze!

Sein Pfeil trifft keine feige Brut;

Er scherzt, aus edlem Männertrutze,

Mit wilder Ungeheuer Wuth.[353]

O, seht mit aufgesträubten Borsten

Ihm seitwärts jenen Eber drohn!

Hört nah und fern es durch die Forsten

Erschallen: blutend liegt Adon!


So schallt's und ächzt bis zu den Grüften,

Wo Venus sehnend sein gedenkt,

Wo sie für ihn mit Nardendüften

Ihr goldumflochtnes Haar besprengt.

Sie springt empor vom Ruhebette,

Wie bei des Hifthorns rauhem Ton

Die Hindin aus der Lagerstätte;

Und sucht, und ruft Adon! Adon!


Dem aber quillt sein Blut am Hügel,

Und mit dem Blut entquillt sein Schmerz,

Und kälter weht des Todes Flügel,

Schon an sein ängstlich athmend Herz.

Sie findet ihn, fällt bei ihm nieder,

Kaum wird ihr noch ein Kuß zum Lohn,

So flieht sein Geist die holden Glieder.

O, klagt um Venus und Adon.

Quelle:
August Wilhelm von Schlegel: Sämtliche Werke, Band 2, Leipzig 1846, S. 351-354.
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