5. Der Fatalist.

[195] Ich befand mich einst vierzehn Tage auf dem linken Flügel der Armee in einer Kosakencolonie am Don. Es lag dort ein Bataillon Infanterie. Die Offiziere fanden sich bald bei diesem bald bei jenem ein, und die Abende wurden mit Kartenspielen zugebracht.

Als uns einst das Boston langweilte, warfen wir die Karten unter den Tisch und unterhielten uns lange Zeit. Wir waren beim Major S. Ganz gegen die Gewohnheit wurde die Unterhaltung interessant. Das Gespräch drehte sich um die Behauptung, daß der muhamedanische Glaube, des Menschen Schicksal sei in die Sterne geschrieben, auch bei uns viele Anhänger habe; Jeder von uns erzählte verschiedene ungewöhnliche Anekdoten für und wider diese Behauptung.

»Das Alles, meine Herren,« sprach der alte Major, »beweist gar nichts; ist doch nicht einmal einer von Ihnen Zeuge der merkwürdigen Vorfälle gewesen, die Sie als Beweise für Ihre Behauptungen anführen.«

»Natürlich – Niemand,« versetzten mehrere; »aber sie sind uns von durchaus glaubhaften Leuten mitgetheilt worden.«

»Das Alles ist dummes Zeug!« sagte Einer. »Wo sind diese glaubwürdigen Leute, welche das Register gesehen haben wollen, in welchem die Stunde unseres Todes verzeichnet steht? ... Und wenn es in der That eine Vorherbestimmung gibt, wozu ist uns denn der freie Wille und die Urtheilskraft verliehen worden? Warum sollen wir unter dieser Voraussetzung Rechenschaft von unseren Handlungen ablegen?«

In diesem Augenblick stand ein Offizier, der bisher in einem Winkel des Zimmers gesessen, auf und trat langsam[196] auf den Tisch zu. Alle überraschte er durch die Ruhe und Feierlichkeit seines Blickes. Er war, wie schon aus seinem Namen hervorging, von Geburt ein Serbe.

Das Aeußere des Lieutenants Wulitsch entsprach durchaus seinem Charakter. Seine hohe Gestalt und die braune Gesichtsfarbe, das schwarze Haar, die durchdringenden, ebenfalls schwarzen Augen, die große, aber regelmäßige Nase – eine besondere Eigenthümlichkeit seines Volkes – das traurige und kalte Lächeln, das stets um seine Lippen irrte, – das Alles vereinigte sich, um ihm das Gepräge eines besonderen Wesens zu geben, – eines Wesens, das unfähig war, die Gedanken und Leidenschaften derer zu theilen, welche das Schicksal ihm als Kameraden gegeben hatte. Er war tapfer, sprach wenig, aber scharf und bestimmt. Niemandem hatte er die Geheimnisse seines inneren Lebens oder die seiner Familie anvertraut. Wein trank er fast gar nicht, und was die jungen Kosakenmädchen betraf, – deren Reize nur der zu schätzen weiß, der sie gesehen hat –, so hatte er sich nie um ihre Gunst beworben. Man behauptete jedoch, daß die Frau des Hauptmanns nicht gleichgiltig sei gegen seine ausdrucksvollen Augen; aber er wurde sofort ernstlich böse, wenn darauf angespielt wurde.

Uebrigens hatte er doch eine Leidenschaft, aus welcher er kein Geheimniß machte – die Leidenschaft des Spiels. Am grünen Tisch vergaß er Alles, und gewöhnlich verspielte er; aber sein beständiges Unglück reizte ihn nur noch mehr. Man erzählte sich, er habe einmal während einer Expedition des Nachts auf einem Schemel eine Spielbank improvisirt. Er hatte über alle Maßen Glück. Plötzlich fallen Schüsse, man schlägt Alarm, Alle springen auf und greifen zu den Waffen.

»Setze,« rief Wulitsch, ohne sich stören zu lassen, einem der feurigsten Spieler zu.

»Sieben,« antwortete dieser, indem er davoneilte.[197]

Wulitsch, ganz gelassen inmitten der allgemeinen Aufregung, hob die Karten ab: Es war die Sieben.

Als er seine Kameraden einholte, war das Gefecht schon sehr lebhaft. Ohne sich um die Kugeln oder Säbel der Tschetschenzen zu kümmern, suchte er den glücklichen Spieler auf.

»Es war die Sieben!« rief er ihm zu, als er ihn endlich in den ersten Reihen der Plänkler entdeckte, welche gerade den Feind aus einem Walde zu vertreiben anfingen, und damit trat er heran, zog seine Börse, holte seine Brieftasche hervor und bezahlte den Gewinner, trotz der Vorstellungen, die ihm über das Unpassende der Zahlung gemacht wurden. Nachdem er diese unangenehme Schuld abgetragen, stürzte er sich auf den Feind, riß seine Soldaten mit sich fort und hörte nicht auf, ganz kaltblütig auf die Tschetschenzen zu schießen, bis das Gefecht zu Ende war.

Als der Lieutenant Wulitsch an den Tisch trat, verstummten Alle in der Erwartung, irgend eine originelle Bemerkung von ihm zu hören.

»Meine Herren,« sagte er mit ruhiger, wenn auch tieferer Stimme als gewöhnlich, »meine Herren, wozu das leere Gerede? Sie wollen Beweise – ich schlage Ihnen vor, die Probe folgender Alternative zu machen: Kann der Mensch nach freiem Willen über sein Leben verfügen, oder ist Jedem von uns der verhängnißvolle Augenblick allein vom Schicksal vorher festgesetzt? ... Wer ist zu der Probe bereit?«

»Ich nicht, ich nicht!« ertönte es von allen Seiten.

»Wie kann man einen solch wunderlichen Einfall haben!«

»Ich biete eine Wette,« sagte ich scherzend.

»Welche?«

»Ich behaupte, daß es keine Vorherbestimmung gibt,« sagte ich und warf zwanzig Dukaten auf den Tisch, – das war Alles, was ich in der Tasche hatte.

»Ich halte die Wette,« versetzte Wulitsch mit dumpfer[198] Stimme. »Major, Sie sollen Richter sein. Da sind fünfzehn Dukaten; die übrigen fünf sind Sie mir noch schuldig, und Sie werden so gütig sein, dieselben hinzuzulegen.«

»Sehr schön,« sagte der Major. »Aber ich begreife nicht recht, um was es sich handelt, und wie Sie die Frage entscheiden.«

Schweigend begab sich Wulitsch in das Schlafzimmer des Majors; wir folgten ihm. Er trat an die Wand, an welcher verschiedene Waffen hingen und wählte aufs Gerathewohl eine Pistole.

Wir begriffen noch immer nicht, was das zu bedeuten hatte; aber als er die Pistole mit einem Zündhütchen versah, schrieen mehrere von uns unwillkürlich auf und hielten seinen Arm zurück.

»Was hast du vor? Aber das ist ja Wahnsinn!« rief man ihm zu.

»Meine Herren,« sagte er langsam, indem er seinen Arm befreite, »wer von Ihnen ist bereit, die zwanzig Dukaten für mich zu bezahlen?«

Alle verstummten und entfernten sich.

Wulitsch trat in ein anderes Zimmer und setzte sich an einen Tisch; wir folgten ihm. Er gab uns ein Zeichen, uns um ihn zu setzen. Schweigend gehorchten wir; in diesem Augenblick übte er eine geheimnißvolle Macht über uns aus. Ich sah ihm unverwandt in die Augen; aber er betrachtete mich ruhigen, unbeweglichen Blickes, und ein schwaches Lächeln zuckte um seine blassen Lippen. Allein trotz seiner Kaltblütigkeit glaubte ich den Stempel des Todes auf seinem blassen Gesicht zu lesen. Ich habe die Beobachtung gemacht – und viele alte Militärs haben dieselbe bestätigt –, daß auf dem Gesichte des Menschen, der nach einigen Stunden zu sterben bestimmt ist, ein seltsamer Ausdruck liegt, der ein geübtes Auge nicht leicht täuscht.

»Sie werden jetzt sterben,« sagte ich zu ihm.[199]

Er wandte sich rasch zu mir um, antwortete jedoch langsam und ruhig:

»Vielleicht ja, vielleicht auch nicht ...«

Und sich dann an den Major wendend, fragte er:

»Ist die Pistole geladen?«

Der Major erinnerte sich in seiner Verwirrung nicht recht.

»Aber nun laß es genug sein, Wulitsch!« sagte einer von uns; »sie ist ohne Zweifel geladen, danach zu urtheilen, wie sie an der Wand hing. Wozu dieser Scherz?«

»Ein dummer Scherz!« fuhr ein Anderer fort.

»Ich wette fünfzehn Rubel gegen fünf, daß die Pistole nicht geladen ist!« rief ein Dritter.

Die Wette wurde angenommen.

Diese umständlichen Ceremonieen langweilten mich.

»Hören Sie,« sagte ich, »entweder Sie schießen, oder Sie hängen die Pistole wieder an ihren Platz; und dann wollen wir zu Bett gehen.«

»Bravo, gehen wir zu Bett!« riefen mehrere.

»Meine Herren, ich bitte Sie, rühren Sie sich nicht vom Platze!« sagte Wulitsch und hielt sich den Lauf der Pistole vor die Stirn.

Wir waren Alle wie versteinert.

»Herr Petschorin,« fuhr er, zu mir gewendet, fort: – »nehmen Sie eine Karte und werfen Sie sie in die Höhe.«

Ich nahm, wie ich mich noch jetzt erinnere, Coeur-Aß vom Tische und warf es in die Höhe: Uns Allen blieb der Athem stehen; Aller Blicke drückten Entsetzen und eine gewisse peinliche Neugier aus, indem sie sich von der Pistole nach der verhängnißvollen Karte wandten, welche, sich in der Luft drehend, langsam herabfiel. In dem Augenblick, als sie den Tisch berührte, drückte Wulitsch auf den Hahn ... Die Pistole versagte!

»Gott sei Dank!« riefen mehrere; »sie war nicht geladen ...«

»Das wollen wir sehen,« sprach Wulitsch.[200]

Er zog von neuem den Hahn zurück und zielte nach einer Mütze, die über dem Fenster hing. Der Schuß ging los – das ganze Zimmer war voll Rauch. Als sich derselbe vertheilt hatte, wurde die Mütze heruntergenommen; sie war gerade in der Mitte durchlöchert, und die Kugel tief in die Wand eingedrungen. – Während mehrerer Minuten vermochte Niemand ein Wort hervorzubringen, Wulitsch dagegen steckte ganz ruhig meine Dukaten in die Tasche. – Wir fragten uns, warum die Pistole das erste Mal versagt habe. Einige behaupteten, die Zündpfanne sei wahrscheinlich verstopft gewesen; Andere äußerten flüsternd die Meinung, das Pulver sei das erste Mal feucht gewesen, und Wulitsch habe das zweite Mal besseres genommen. Aber ich behaupte, daß diese letztere Annahme unbegründet ist, denn während der ganzen Zeit hatte ich meine Blicke von der Pistole nicht abgewendet.

»Sie haben Glück im Spiel,« sagte ich zu Wulitsch.

»Zum ersten Mal in meinem Leben,« antwortete er mit einem selbstzufriedenen Lächeln; »es ging hier besser als beim Hazardspiel.«

»Dafür war die Sache auch ein wenig gefährlicher!«

»Wieso? Glauben Sie denn jetzt an die Vorherbestimmung?«

»Ja, ich glaube daran; nur begreife ich jetzt nicht, wie ich zu der Ansicht kam, Sie müßten jetzt unfehlbar sterben ...«

Dieser selbe Mann, der sich soeben kaltblütig die Pistole vor die Stirn gehalten, wurde jetzt plötzlich unruhig und verwirrt. »Aber lassen wir's nun genug sein,« sagte er aufstehend: »unsere Wette ist zu Ende und jetzt scheinen mir Ihre Bemerkungen unpassend.« Er ergriff seine Mütze und entfernte sich. Ich war erstaunt über den seltsamen Eindruck, den meine Worte auf Wulitsch gemacht – und nicht ohne Grund.

Bald begaben sich Alle nach Hause, indem sie sich in verschiedener Weise über das sonderbare Wesen des Kameraden Wulitsch unterhielten und mich vermuthlich einstimmig einen Egoisten nannten, daß ich eine Wette angenommen, deren[201] Einsatz das Leben eines Menschen gewesen, als ob er ohne mich keine passende Gelegenheit gefunden hätte, sich zu erschießen ...

Ich kehrte durch die leeren Gäßchen der Colonie nach Hause zurück. Der volle Mond, roth wie der Schein eines Brandes, begann hinter den zackigen Dächern der Häuser emporzusteigen; friedlich schimmerten die Sterne an dem dunkelblauen Himmel, und ich lächelte bei dem Gedanken, daß es einst weise Leute gegeben, welche glaubten, diese himmlischen Lichter nähmen Antheil an unsern nichtigen Streitigkeiten um ein Fleckchen Erde oder um irgend welche eingebildete Rechte. Ja, diese Leuchten, welche nach ihrer Ansicht nur angezündet sind, um ihre Schlachten und Triumphe zu beleuchten, prangen noch mit dem früheren Glanze, während ihre eigenen Leidenschaften und Hoffnungen längst mit ihnen erloschen sind, – wie ein Feuer, das ein sorgloser Wanderer am Saume des Waldes angezündet hat! Aber andererseits, welche Willenskraft verlieh ihnen die Ueberzeugung, daß der ganze Himmel mit seinen zahllosen Bewohnern auf sie, wenn auch mit stummer, aber unveränderlicher Theilnahme herabblicke! ...

Wir aber, ihre traurigen Nachkommen, die wir auf der Erde umherschweifen ohne Ueberzeugungen und ohne Stolz, ohne Genuß und ohne eine andere Furcht als jene unwillkürliche Angst, welche das Herz bei dem Gedanken an das unvermeidliche Ende zusammenschnürt, – wir sind nicht mehr fähig zu großen Opfern, weder für das Wohl der Menschheit, noch auch für unser eigenes Glück, weil wir das Bewußtsein haben, daß dieses Glück unmöglich ist, – und so schwanken wir gleichgiltig von Zweifel zu Zweifel, wie unsere Vorfahren sich aus einem Irrthum in den andern stürzten, ohne wie sie weder Hoffnungen, noch auch jenen mächtigen, wenn auch unbestimmten Genuß zu haben, welcher die Starken in ihren Kämpfen gegen ihre Mitmenschen oder wider das Geschick begleitet ...

Viele solcher Gedanken gingen mir durch den Kopf; ich hielt sie nicht fest, weil ich es nicht liebe, mich bei abstrakten[202] Gedanken aufzuhalten. Und wozu führt das auch? ... In meiner ersten Jugend war ich ein Träumer; ich liebte es, abwechselnd bald traurige bald freudige Bilder, welche meine unruhige und gierige Phantasie schuf, zu hätscheln. Aber, was ist mir davon geblieben? Nichts als jene Müdigkeit, die man nach einem nächtlichen Kampfe mit einem Gespenst empfindet, und eine traurige Erinnerung voller Bitterkeit.

In diesen vergeblichen Kämpfen habe ich die Glut meiner Seele und jene Willenskraft erschöpft, welche für ein thätiges Leben unumgänglich nothwendig sind. Als ich in dieses Leben eintrat, hatte ich es schon im Geiste durchlebt, und ich empfand eine Langeweile und einen Widerwillen, wie Jemand, der eine schlechte Nachahmung eines ihm schon längst bekannten Werkes liest.

Die Vorgänge dieses Abends hatten einen tiefen Eindruck auf mich gemacht und meine Nerven erschüttert. Ich weiß in der That nicht, ob ich jetzt an Vorherbestimmung glaube oder nicht, aber an jenem Abende glaubte ich fest daran. Der Beweis war überzeugend, und obgleich ich mich über unsere Vorfahren und ihre dienstwillige Astrologie lustig machte, war ich doch unwillkürlich in dasselbe Geleise gefallen. Aber ich hielt mich selbst rechtzeitig auf diesem gefahrvollen Wege an, und da es Grundsatz bei mir war, nichts entschieden zu verwerfen oder blindlings zu glauben, so warf ich die Metaphysik bei Seite, um die Erde unter meinen Füßen zu sehen. Eine solche Vorsicht war durchaus am Platze, – denn beinah wäre ich über etwas Dickes und Weiches, aber dem Anschein nach, Lebloses gefallen.

Ich neige mich herab – der Mond schien bereits gerade auf den Weg ... Und was sehe ich? Vor mir lag ein Schwein, das mit einem Säbel mitten durchgehauen war ... Kaum hatte ich es erblickt, als ich das Geräusch von Schritten vernahm: Zwei Kosaken kamen aus einem benachbarten Gäßchen hervorgestürzt. Der Eine näherte sich mir und fragte mich, ob ich einen betrunkenen Kosaken gesehen, der ein[203] Schwein verfolgt hätte. Ich sagte ihnen, daß ich dem Kosaken nicht begegnet sei, zeigte ihnen aber das unglückliche Opfer seiner übelangebrachten Tapferkeit.

»Ein solcher Räuber!« rief der zweite Kosak. »Wenn er zu viel Most getrunken hat, vernichtet er alles, was ihm in den Weg kommt. Wir wollen ihm nacheilen, Jeremeitsch wir müssen ihn binden, sonst ...«

Sie entfernten sich; ich setzte meinen Weg mit größerer Vorsicht fort und gelangte endlich glücklich in mein Quartier.

Ich wohnte bei einem alten Corporal, den ich wegen seines guten Charakters, vor allem aber um der hübschen Nastja, seines Töchterchens willen gerne leiden mochte.

Wie gewöhnlich erwartete sie mich, in ihren Pelz gehüllt, an dem Pförtchen. Der Mond beleuchtete ihre schönen Lippen, welche von der nächtlichen Kälte etwas blau geworden waren. Als sie mich erkannte, lächelte sie; aber ich war nicht in der Stimmung, mich mit ihr zu befassen.

»Guten Abend, Nastja,« sagte ich, indem ich an ihr vorüberging. – Sie wollte etwas antworten, seufzte jedoch nur.

Ich schloß hinter mir die Thür meines Zimmers, steckte ein Licht an und warf mich auf das Bett. Allein der Schlaf ließ diesmal länger als gewöhnlich auf sich warten. Im Osten begann es bereits hell zu werden, als ich endlich einschlummerte, – aber ohne Zweifel stand es im Buch des Schicksals geschrieben, daß ich diese Nacht ohne Schlaf verbringen sollte. Gegen vier Uhr Morgens klopften zwei Fäuste an mein Fenster. Ich sprang auf.

»Was gibt's?«

»Steh' auf, kleide dich an!« riefen mir mehrere Stimmen zu. Ich kleidete mich rasch an und ging hinaus.

»Weißt du auch, was geschehen ist?« sagten zugleich drei Offiziere, – sie waren leichenblaß.

»Was denn?«

»Wulitsch ist todt.« – Ich war wie versteinert.

»Ja, todt!« fuhren sie fort. »Komm' schnell mit.«[204]

»Wohin denn?«

»Das wirst du unterwegs erfahren.«

Wir gingen. Sie erzählten mir Alles, was geschehen war, nicht ohne verschiedene Bemerkungen einzuflechten über die sonderbare Vorherbestimmung, welche ihn noch eine halbe Stunde vor seinem Tode von einem unvermeidlichen Untergange gerettet hatte. – Wulitsch war über die finstere Straße allein nach Hause gegangen. Da war ihm der betrunkene Kosak begegnet, der das Schwein umgebracht hatte, und vielleicht wäre er, ohne ihn zu bemerken, an ihm vorübergegangen, wenn nicht Wulitsch plötzlich stehen geblieben wäre und ihn gefragt hätte: »Wen suchst du, Freund?«

»Dich!« hatte der Kosak geantwortet.

Und damit hat er ihm einen so furchtbaren Schlag mit seinem Säbel gegeben, daß er ihn von der Schulter bis beinah zum Herzen durchgehauen hatte ...

Die beiden Kosaken, die mir begegnet waren und den Mörder verfolgt hatten, waren herbeigestürzt und hatten den Verwundeten aufgehoben; allein dieser hatte bereits in den letzten Zügen gelegen und nur diese drei Worte hervorbringen können: »Er hatte Recht.«

»Ich allein begriff den dunklen Sinn dieser Worte – sie bezogen sich auf mich; ich hatte dem Armen unwillkürlich sein Geschick vorausgesagt; mein Instinkt hatte mich nicht getäuscht: Ich hatte wirklich auf seinem veränderten Gesicht den Stempel des nahen Todes gelesen.«

Der Mörder hatte sich am Ende der Colonie in eine leere Hütte eingeschlossen. Wir begaben uns dorthin. Ein Haufen Weiber lief heulend nach derselben Richtung. Von Zeit zu Zeit stürzte ein Kosak, der die Nacht durchschwärmt, heraus auf die Straße, gürtete in der Eile seinen Kinschal und überholte uns. Der Lärm war furchtbar. Endlich waren wir an Ort und Stelle. Die Volksmenge umgab die Hütte, deren Thüren und Fenster von innen verschlossen waren. Die Offiziere und Kosaken sprechen hitzig mit einander; die Weiber[205] heulen und kreischen. Unter ihnen fiel mir das eigenthümliche Gesicht einer Alten auf, das eine geradezu wahnsinnige Verzweiflung ausdrückte. Sie saß auf einem Balken, die Ellenbogen auf die Knie gestützt und den Kopf in den Händen haltend, – es war die Mutter des Mörders. Ihre Lippen bewegten sich von Zeit zu Zeit ... Flüsterten sie ein Gebet oder einen Fluch?

Es mußte jedoch irgend ein Entschluß gefaßt werden, um den Verbrecher zu ergreifen. Aber Niemand wagte sich zuerst an die Hütte heran. – Ich näherte mich dem Fenster und blickte durch einen Spalt des Ladens. Der Kosak lag bleich auf der Diele, in der Rechten eine Pistole haltend; der blutige Säbel lag neben ihm. Er rollte die Augen mit einem furchtbaren Ausdruck umher; bisweilen erbebte er und griff sich an den Kopf, als ob er sich undeutlich an das Geschehene erinnere. Ich vermochte keine große Entschlossenheit in diesem unruhigen Blicke zu lesen und sagte zu dem Major, das Beste sei, die Thür einzustoßen und die Kosaken jetzt eindringen zu lassen, damit er nicht Zeit finde, erst wieder zum vollen Bewußtsein zu kommen.

In diesem Augenblick trat ein alter Jessaul1 auf die Thür zu und rief ihn bei Namen; der da drinnen antwortete.

»Du hast gesündigt, Bruder Jefimitsch,« sagte der Jessaul; »es ist also nichts mehr zu machen, – du mußt dich ergeben!«

»Ich ergebe mich nicht!« antwortete der Kosak.

»Versündige dich nicht wider Gott! Du bist ja doch kein verfluchter Tschetschenze, sondern ein ehrlicher Christ. Und wenn du dich zu einem Verbrechen hast hinreißen lassen, so ist nichts zu machen, deinem Schicksal wirst du nicht entgehen!«

»Ich ergebe mich nicht!« schrie der Kosak mit drohender Stimme, und wir hörten, wie der aufgezogene Hahn knackte.

»Heda, Mütterchen,« sagte der Jessaul zu der Alten; »rede du deinem Sohne zu; vielleicht hört er auf dich ... Dies[206] Alles reizt ja nur den Zorn Gottes. Schau, die Herren warten bereits zwei Stunden.«

Die Alte sah ihn starr an und schüttelte den Kopf.

»Wassili Petrowitsch,« sprach der Jessaul, zu dem Major tretend, »er wird sich nicht ergeben; ich kenne ihn, und wenn man die Thür einschlägt, wird er mehr als Einem den Garaus machen. Wäre es nicht das Beste, ihn niederzuschießen? Da in dem Fensterladen ist ein breiter Spalt.«

In diesem Augenblick zuckte mir ein seltsamer Gedanke durch den Kopf: Gerade wie Wulitsch wollte ich das Schicksal versuchen. »Warten Sie,« sagte ich zu dem Major; »ich werde ihn lebendig ergreifen.«

Ich sagte dem Jessaul, er möge durch ferneres Reden mit ihm seine Aufmerksamkeit ablenken, und nachdem ich drei Kosaken an der Thür aufgestellt, mit dem Befehl, sie auf ein gegebenes Zeichen einzustoßen und mir zur Hilfe zu kommen, ging ich um die Hütte herum und näherte mich dem verhängnißvollen Fenster; heftig pochte mir das Herz.

»Du verfluchter Kerl!« schrie der Jessaul. »Willst du dich noch über uns lustig machen! Oder meinst du, wir würden mit dir nicht fertig!« Und er begann mit aller Gewalt gegen die Thür zu stoßen. Ich legte das Auge an den Spalt und folgte allen Bewegungen des Kosaken, der von dieser Seite durchaus keinen Angriff erwartete. Plötzlich riß ich den Fensterladen auf und stürzte mich mit dem Kopf nach unten in die Stube. Es fiel ein Schuß, eine Kugel flog dicht an meinem Ohr vorbei und zerriß meine Epaulette. Aber der Pulverdampf, der die Stube erfüllte, hinderte meinen Gegner, sofort seinen neben ihm liegenden Säbel zu finden. Ich hielt ihm die Hände fest, die Kosaken stürzten sich auf ihn, und nach drei Minuten war der Verbrecher gebunden und unter Bedeckung abgeführt. Die Menge zerstreute sich und die Offiziere beglückwünschten mich ... In der That, sie hatten Grund dazu.

Nach solchen Vorfällen sollte Einer nicht Fatalist werden![207] Aber wer weiß wirklich, ob er von etwas überzeugt ist oder nicht? ... Wie oft halten wir für eine Ueberzeugung, was nur Sinnestäuschung oder ein Irrthum des Verstandes ist! ... Ich liebe es, an Allem zu zweifeln. Diese Neigung beeinträchtigt die Entschiedenheit des Charakters nicht; im Gegentheil; wenigstens was mich betrifft, ich gehe immer kühner vorwärts, wenn ich nicht weiß, was mich erwartet. Etwas Schlimmeres als den Tod kann es nicht geben – und dem Tode entgeht man nicht.

In das Fort zurückgekehrt, erzählte ich Maxim Maximitsch Alles, was mir begegnet war und den Auftritt, wovon ich Zeuge gewesen; ich wollte wissen, was er über die Vorherbestimmung denke. Anfangs begriff er dieses Wort nicht, aber ich erklärte es ihm, so gut ich konnte, und da schüttelte er bedeutsam den Kopf und sagte:

»Ja, ja ... freilich ... das ist ein sehr wunderlicher Vorfall! ... Uebrigens versagen diese Hähne aus asiatischen Werkstätten sehr häufig, wenn sie schlecht geschmiert sind oder man nicht stark genug darauf drückt. Ich gestehe, mir gefallen diese tscherkessischen Büchsen nicht. An eine solche Waffe kann sich Unsereins nicht gewöhnen; der Kolben ist zu klein – und wenn man sich nicht in Acht nimmt, verbrennt einem das Zündpulver die Nase ... Was dagegen ihre Säbel betrifft – alle Achtung, alle Achtung!«

Nach kurzem Schweigen setzte er hinzu:

»Ja, es thut mir leid um den armen Burschen ... Aber was zum Teufel plagte ihn auch, des Nachts einen Betrunkenen anzureden! ... Uebrigens war es ihm ohne Zweifel schon in der Wiege so bestimmt!« ...

Mehr konnte ich aus ihm nicht herausbringen; er war überhaupt kein Freund von philosophischen Erörterungen.


Ende.

1

Kosakenhauptmann.

Quelle:
Lermontoff, Michael: Ein Held unsrer Zeit. Leipzig [o. J.], S. 195-208.
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