An ein Paar Ringeltäubchen

[167] 1772.


Flattert näher, bunte Ringeltäubchen!

Komm, mit deinem lieben, trauten Weibchen,

Frommer Tauber, tiefer in den Hain!

Unter diesen grünen Finsternissen

Könnt ihr ungestört einander küssen,

Und euch ganz der süßen Liebe weihn.


Friedlich soll die Pappel euch bewirten;

Fürchtet nicht den frommen Lämmerhirten,

Den, wie euch, ein sanfter Trieb erfüllt!

Könnt' ich Lieb' und Zärtlichkeit verletzen?

O, ich folge Cypriens Gesetzen,

Und wer ihnen folgt, ist sanft und mild.


Sammelt kleine Myrtenreiser, bauet

Euer Nest im Pappelstamm, vertrauet

Eure weißen Eierchen ihm an!

An der Unschuld sichern Ruheplätzen

Soll kein wilder Habicht euch verletzen,

Euren Jungen sich kein Sperber nahn.


Still ist diese Gegend; Ruhe wohnet

Rings umher; die sanfte Unschuld thronet[167]

Hier am liebsten. Eine Schäferin,

Die an Liebreiz eurer Göttin gleichet,

Daphne, mit den blauen Augen, schleichet

Oft in diese stillen Schatten hin.


Und der Friede wallt auf allen Wegen

Der geliebten Schäferin entgegen,

Unschuld folget ihren Schritten nach;

Zephyr weht durchs junge Laub gelinder,

Laute Wasserfälle brausen minder,

Und das Lied der Nachtigall wird wach.


Wenn ihr euch auf schlanken Ästen wieget,

Und das Mädchen hier auf Blumen lieget;

Dann beginnt der Küsse süßes Spiel!

Weckt in ihrem jugendlichen Herzen

Unbekannte Seufzer, stille Schmerzen,

Und der Sehnsucht zärtliches Gefühl!


Seufzer werden ihren Busen heben,

Thränen über ihre Wangen beben,

Liebe wird im blauen Auge glühn;

Dann will ich mich sittsam zu ihr stehlen,

Zum Geliebten wird sie mich erwählen,

Und mit mir in Eine Hütte ziehn.


Kommt dann, Täubchen, wenn der Herbst entfliehet,

Und der Winter unsre Flur beziehet,

Vor die Hütte! Bis er wieder flieht,

Will ich euch die besten Körner streuen;

O, wie wird sich meine Daphne freuen,

Wenn sie ihre Täubchen wieder sieht!


Hat euch meine Bitte schon gerühret?

Seht! von Lieb' und Mitleid hergeführet,

Flattert ihr der kühlen Pappel zu.

O wie pocht mein Herz in stärkern Schlägen!

Tausend Freuden lachen mir entgegen;

Hoffnung, Hoffnung! o wie süß bist du!


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50, Stuttgart [o.J.], S. 167-168.
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